MARCO BELLOCCHIO: Bleiernes Zelluloid

Marco Bellocchio lässt in „Buongiorno, notte“ die politischen Hintergründe größtenteils außen vor. Dafür schuf er das Psychogramm einer geschlossenen Gesellschaft von Revolutionären.

Revolutionärin zwischen Welten: Die Kidnapperin Chiara (Foto: Océan Films)

Ein junges Paar besichtigt ein Apartment in Rom. Die beiden sprechen nur wenig, das Reden überlassen sie dem Immobilienmakler. Was sie suchen, ist keine normale Wohnung, sondern ein Versteck – ein Gefängnis.

Marco Bellocchios Film „Buongiorno, notte“, vergangenes Jahr in Venedig prämiert, spielt Ende der 1970er Jahre, auf dem Höhepunkt der „bleiernen Jahre“. Das ist jene Phase in der italienischen Geschichte, in der rund 400 Menschen bei politisch motivierten Attentaten starben und in der sich die Guerilla-Organisation „Brigate Rosse“ mit der Autorität des Staates einen bewaffneten Kampf lieferte. Fernsehbilder führen das Ereignis ein, um das es in dem Film hauptsächlich geht: die Entführung von Aldo Moro, des damaligen Vorsitzenden der christdemokratischen Partei Italiens.

Ein Kommando der Roten Brigaden hatte den Fahrzeugkonvoi des Politikers am 16. März 1978 nordwestlich von Rom überfallen und die vier Leibwächter sowie den Fahrer erschossen. Moro schleppten die Geiselnehmer in eine angemietete Wohnung, die sie zum „Volksgefängnis“ umgebaut hatten. Bellocchio zeigt akribisch die Umbauarbeiten: Aus Regalen wird eine doppelte Wand gezimmert, hinter der Moro gefangen gehalten wird. Zu dem Paar, Chiara und Ernesto, haben sich zwei Komplizen gesellt – einer davon ist der Anführer ihres Entführungskommandos.

Die Geschichte wurde 1986 schon einmal verfilmt, und zwar von Giuseppe Ferrara: „Die Affäre Aldo Moro“, ein spannender Politthriller, der die Ereignisse bis zur Ermordung Moros, damals überzeugend gespielt von Gian Maria Volonté, durch seine Entführer schildert und dabei auch die politischen Hintergründe und die Paranoia dieser Zeit beleuchtet. Denn am selben Tag, als Moro gekidnappt wurde, kam es im italienischen Parlament zu einer Vertrauensabstimmung. Erstmals sollte die kommunistische Partei in die Regierung mit einbezogen werden. Die Architekten dieses „historischen Kompromisses“: der damalige KP-Chef Enrico Berlinguer sowie Aldo Moro.

Den Gegnern dieser Versöhnungspolitik kam die Entführung Moros nicht ungelegen. Bei den Christdemokraten gewannen die Hardliner wieder die Oberhand. Regierungschef Giulio Andreotti, graue Eminenz der Democrazia Cristiana und Mitglied der rechtsgerichteten Geheimloge P2, schloss Verhandlungen mit den Entführern kategorisch aus.
Diese hatten die Freilassung von 13 inhaftierten Genossen
gefordert.

Doch von all dem ist bei Bellocchio wenig zu sehen. „Buongiorno, notte“ ist wie ein Kammerspiel konzipiert. Der Film legt den Schwerpunkt auf die inneren Kämpfe der Entführer – betrachtet aus der Perspektive von Chiara. Die junge Frau führt ein Doppelleben zwischen ihrem Job in einer Bibliothek und dem Leben in der konspirativen Gemeinschaft der Geiselnehmer. Diese leben in einer Art Huis clos, einer geschlossenen Gesellschaft. Chiara, überzeugend gespielt von Maya Sansa, zweifelt an dem Vorhaben. Sie ist keine Dogmatikerin. Von den anderen wird sie auf ein krudes Frauen-Klischee festgelegt, das eher dem des politischen Gegners entspricht als dem einer revolutionären Gruppe: Sie erledigt die Hausarbeiten, während die Männer die politischen Diskussionen führen.

Draußen dagegen, in der realen Welt, macht ihr Enzo Avancen, ein junger Mann, der ein Drehbuch geschrieben hat mit dem Titel „Buongiorno, notte“.

Eine dritte Ebene kommt mit Chiaras Tagträumen hinzu: einerseits banale Propagandafetzen, andererseits stellt sie sich einmal vor, wie Moro die Flucht gelingt. Ein anderes Mal träumt Chiara, wie sie zusammen mit Enzo einer Gruppe kommunistischer Veteranen beim Singen eines alten Widerstandsliedes zuhört. Diese Traumsequenzen heben Bellocchios Film auf eine meta-politische Ebene und machen seinen besonderen Reiz aus. Manche wirken wiederum durch ihren religiösen Inhalt bleischwer. Von dem einfachen christlichen Humanismus Aldo Moros sind sie weit entfernt. Die Geisel selbst wird unterdessen weniger als Politiker gezeigt, sondern als ein Mann, der dem Tod ins Auge blickt.

Frühere Politthriller mit ähnlicher Thematik wie Costa-Gavras‘ Klassiker „L’état de siège“ (1973) oder Bruno Barretos brasilianischer Film „O que é isso, companheiro?“ (1997) sind aussagekräftiger und analytischer. Dagegen gelang Bellocchio das Psychogramm einer Gruppe von Revolutionären, das auf den Memoiren von Anna Laura
Braghetti basiert. Auch wenn „Buongiorno, notte“ bisweilen vor „bleierner“ Gedankenschwere stecken bleibt.


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