KINO: Unendliches Meer der Freiheit

Alejandro Amenabars „Mar adentro“ handelt nicht nur von aktiver Sterbehilfe. Er ist ein poetischer Film über Liebe und Tod – mit einem großartigen Javier Bardem in der Hauptrolle.

Ramon Sampedro liegt seit 27 Jahren im Bett. Er ist, nachdem er bei einem Sprung von einem Felsen auf eine Sandbank prallte, vom Hals abwärts gelähmt. Der einst weit gereiste Seemann lebt auf dem Bauernhof seines Bruders im spanischen Galizien, umsorgt von seiner Schwägerin. Eines Morgens steht Ramon auf und verlässt sein Bett. Er schiebt es auf die Seite, nimmt Anlauf und springt aus dem Fenster. Ramon fliegt: über die galizischen Wälder und Flüsse, über Täler und Hügel – bis zum Meer, das er über alles liebt, das ihm, wie er sagt, alles gegeben und alles genommen hat. Dann wacht er wieder auf. Er liegt immer noch im Bett. Alles war nur ein Traum.

Die Szene ist eine der eindrucksvollsten in „Mar adentro“ (Das Meer in mir). Der neue Film von Alejandro Amenabar beschreibt die Sehnsucht der Hauptperson, die sonst nur noch einen Wunsch hat: zu sterben und nicht zum Leben gezwungen zu werden. Dazu benötigt er Hilfe. Doch jeder, der ihm gerne helfen würde, seinen Tod herbeizuführen, würde sich des Mordes schuldig machen. Gené ist Vertreterin der „Gesellschaft für würdiges Sterben“. Sie besucht ihn regelmäßig, ebenso wie die Fabrikarbeiterin Rosa (Lola Duenas), die in ihm den Mann fürs Leben sieht. Und da ist noch die Rechtsanwältin Julia (Belen Rueda), die ihm dabei hilft, sein Buch „Cartas desde el infierno“ (Briefe aus der Hölle) zu veröffentlichen.

Ramon Sampedro gab es wirklich. Nach dem Scheitern aller legalen Wege nahm er sich im Januar 1998 mit Hilfe einer Freundin das Leben. Im katholischen Spanien führte dies zu einer Diskussion über aktive Sterbehilfe. Der erst 32-jährige gebürtige Chilene Amenabar, bekannt geworden durch „Abre los ojos“ und „The Others“, nahm sich des heiklen Themas an, ohne in die Fahrwasser des Kitsches und der Gefühlsduselei zu geraten. Doch deshalb ist „Mar adentro“ noch lange kein politisches Manifest für die aktive Sterbehilfe. Er ist mehr: Der Film handelt von Liebe, vom Sinn des Lebens und von der Tabuisierung des Todes.

Vor allem aber geht es um das Recht eines Menschen, über sein eigenes Leben und seinen Tod frei entscheiden zu können. Freiheit ist für Ramon der höchste Wert. Symbolisch dafür steht das unendliche Meer, und das „Meer im Innern“ des Gelähmten ist das Streben nach unendlicher Freiheit. Das Recht, mit seinem Leben tun und lassen zu können, was er will, ist ihm wichtiger als das, was der – ebenso gelähmte – Pater Francisco (José Pou) die menschliche Würde nennt.

Als ihn der katholische Geistliche auf dem Bauernhof aufsucht, treffen zwei philosophische Prämissen aufeinander. Die Szene ist zugleich eine der humorvollsten des Films: Da die Treppe hinauf zu Ramons Zimmer zu eng ist für den Rollstuhl des Paters, reden beide aus der Distanz und per Boten miteinander. Dass „Mar adentro“ trotz des ernsten Themas nicht frei von Ironie ist, beweisen auch die Szenen, in denen sich Ramon mit seinem Neffen Javi unterhält. Der Teenager versteht noch sehr wenig von den Gefühlen seines gelähmten Onkels und dessen Kampf um Selbstbestimmung. Umso mehr versteht Julia den Lebensmüden. Ihr schreibt er vor seinem Tod, der mit einer Videokamera aufgenommen wird, einen letzten Brief. Doch zu diesem Zeitpunkt ist sie längst an der Unmöglichkeit dieser Liebe zerbrochen.

„Mar adentro“ ist ein thematisch komplexer Film – und voller Poesie. Das ist zum einen den genauen Charakterzeichnungen zu verdanken, aber auch dem gelungenen Drehbuch und den Dialogen, die im Spannungsverhältnis zwischen Konkretem und Bedeutungsschwere geschickt die Balance halten. Eine geteilte Zigarette kann so oft mehr wert sein als eine ganze Reihe bedeutungsschwerer Plädoyers. Was den mit Goyas, dem spanischen Oscar, überhäuften Film so wertvoll macht, sind die durchweg brillanten Schauspielerleistungen. Vor allem der 35-jährige Javier Bardem glänzt in der Rolle des rund 15 Jahre älteren Ramon Sampedros. Dafür wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem in Venedig. Es folgte eine Nominierung für den Golden Globe. Nach seiner famosen Darstellung des kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas in „Before Night Falls“ ist dies ein weiterer Höhepunkt in der noch jungen Karriere des einst als Inbegriff des spanischen Machos verschrienen Schauspielers.


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