LISSABON OHNE UMWELT: Von Kindern und Säulen

Unter luxemburgischer Präsidentschaft wird darum gefeilscht, welcher Stellenwert Wirtschaft, Umwelt und Sozialem zukommt.

Im Vorfeld des EU-Frühjahrsgipfels am 22. und 23. März sorgt ein Gleichnis für Diskussionen. „Wenn eines meiner Kinder krank ist, konzentriere ich mich auf dieses. Das bedeutet aber nicht, dass ich die anderen Kinder weniger lieb habe“, hatte Kommissionspräsident José Manuel Barroso gesagt, als er seine Vorschläge für einen Neustart der Lissabon-Strategie vorstellte. Gemeint war, dass bei den Entscheidungen des Frühjahrsgipfels Umwelt und Soziales zurückstehen müssten, weil die Wirtschaft in einer schweren Krise steckt. Beifall für seine freie Auslegung der Lissabon-Prinzipien erhielt der Kommissionspräsident von Liberalen und Rechten, Kritik kam von der gesamten Linken, SozialdemokratInnen einbegriffen.

Was Barroso jetzt auf subtile Art durchzusetzen versucht, nämlich das Primat der Wirtschaftspolitik, war schon immer die Triebfeder der Lissabon-Strategie, wie ein Blick auf ihre Entstehungsgeschichte zeigt. Ausgangspunkt des Gipfels im März 2000 war der Wunsch, die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Aus Rücksicht auf die soziale Sensibilität einiger Regierungen wurde das Ziel eines besseren gesellschaftlichen Zusammenhalts hinzugefügt. Erstgeborenes Kind ist also die Wirtschaft, das Nesthäkchen Umwelt kam erst im Juni 2001, beim Göteborger Gipfel, dazu.

Seither baut die Lissabon-Strategie auf drei Säulen auf. Die bis zu Barrosos Rede gebräuchliche Säulen-Metapher soll ausdrücken, dass, wenn eine der Säulen wackelt, das ganze Gebäude zusammenbricht. Bei der Wiederbelebung von Lissabon in den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass die zusätzliche ökologische Komponente nicht unbedingt für eine Stärkung der Umweltinteressen steht. Mit ihren drei Säulen sieht die Lissabon-Agenda der Strategie für eine nachhaltige Entwicklung zum Verwechseln ähnlich – und nimmt in der öffentlichen Diskussion nach und nach deren Platz ein. Mit dem Unterschied, dass bisher die Nachhaltigkeit – eine vom Ansatz her ökologische Zielvorgabe – den Ton angab und Wirtschaftswachstum sowie Sozialverträglichkeit sich darauf abzustimmen hatten. Nachhaltig wäre zum Beispiel, den Energieverbrauch zu senken, statt auf „Lösungen“ wie die Atomenergie zu setzen, die nur neue Probleme schaffen. Im Lissabon-Rahmen dagegen müssen sich soziale und ökologische Forderungen an einer wirtschaftlichen, und oftmals kurzfristigen Logik messen lassen.

Auf Barrosos Rede, die das Säulenmodell in Frage stellt, reagierte das Europäische Umweltbüro mit einer Umdeutung des Gleichnisses: Das Kind, das am lautesten schreie, die Wirtschaft, habe nur einen Schnupfen. Das Kind Umwelt dagegen sei still, aber es habe eine tödliche Krankheit, welche die Gesundheit der ganzen Familie bedrohe. Andere KritikerInnen bestreiten die Gleichwertigkeit der drei Komponenten: Eine saubere Umwelt sei die Grundlage jeder menschlichen Tätigkeit, das Soziale ihr eigentlicher Zweck. Wirtschaft ist in diesem Modell nicht mehr als ein Mittel.

Solche Auseinandersetzungen mögen theoretisch klingen, sie haben aber praktische Auswirkungen. Wer die Wirtschaft wie ein krankes Kind behandelt, wird viel Verständnis für Industrielobbyisten aufbringen. Dann leuchtet ein, dass man den Betrieben nicht noch zusätzliche Luftreinhalteregeln aufbürden kann und dass die Lohnnebenkosten mit allen Mitteln gesenkt werden müssen. Legt man dagegen mehr Gewicht auf die Interdependenz von Wirtschaft, Umwelt und Sozialem, so erscheinen die Klagen der Industrie als Symptome eines falsch angelegten Wirtschaftens. Ziel sollte sein, Luftverschmutzung und Arbeitslosigkeit gar nicht erst entstehen zu lassen, statt ihre Folgen resorbieren zu müssen. Hier greifen auch Modelle, die streng zwischen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen unterscheiden, zu kurz. Saubere Luft und niedrige Arbeitslosigkeit sind nicht nur eine Ressource und ein gesellschaftliches Ziel, sondern auch ein wirtschaftlicher Standortvorteil.


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