MARTIN SCORSESE: Jenseits von Scorsese

Im packenden Gangsterfilm „The Departed“ inszeniert Scorsese eine Welt, die seine Obsessionen um moralische Verkommenheit und Erlösung nicht länger teilt.

Doppeltes Spiel: Zwischen Mafiaboss und Verräter scheint noch alles in Ordnung.

Priester und Gangster, die katholische Kirche und die Mafia, so meinte Martin Scorsese einst, regierten Little Italy, das New Yorker Viertel, in dem der Regisseur seine Kindheit verbrachte. Religiosität mit ihren Schuldgefühlen und Erlösungssehnsüchten und die Brutalität der Straße bilden den Themenkomplex, um den die meisten seiner Filme kreisen, von „Mean Streets“, Scorseses künstlerischem Durchbruch, bis zu „The Departed“, seinem jüngsten Werk, das zur Zeit in den Kinos anläuft.

Nachdem er mit „The Aviator“ einen Ausflug in das Biopic-Genre wagte, kehrt Scorsese zu seinem ureigenen Gegenstand zurück. In „The Departed“ stehen sich ganz klassisch Polizei und organisiertes Verbrechen gegenüber. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Spitzel, die von den Polizisten und den irischen Gangstern um Frank Costello (Jack Nicholson) benutzt werden, um sich gegenseitig zu unterwandern. Während Colin Sullivan (Matt Damon), nach außen hin ein aufstrebender Ermittler, Costello vor Polizeiaktionen warnt, erwirbt sich Billy Costigan (Leonardo DiCaprio) das Vertrauen des Drogenbarons, um ihn seiner Verbrechen zu überführen. Während die Informanten sich in den Dienst ihrer jeweiligen Auftraggeber stellen, versuchen beide vor allem ihre eigene Haut zu retten.

Als Vorlage diente der Hongkong-Thriller „Infernal Affairs“ von Andrew Lau und Mak Siu Fai. Und doch ist „The Departed“ alles andere als ein Remake. Nicht nur versieht Scorsese die Handlung mit einer überraschenden Wendung und die Charaktere mit psychologischem Tiefgang, er tränkt die Story ebenfalls mit der für ihn typischen Thematik um Schuld und Sühne.

Am Faszinierendsten ist The Departed jedoch da, wo der Film von seinen Vorgängern entscheidend abweicht. Anders als in Scorseses Klassikern wie „Taxi Driver“ und „Raging Bull“ und im sträflich unterschätzten „Bringing Out The Dead“ fehlt die tragische Figur des im Inneren zerrissenen und in den Wahn getriebenen männlichen Helden. Überhaupt fehlt das Obsessive, Rasende, Verrückte, das innere Ringen um die Seele des Verzweifelten. Die religiöse Dimension tritt weniger im Innenleben der Charaktere hervor als in äußerer Symbolik, in vom Regisseur eingestreuten Hinweisen, wie in Sullivans Blick auf die Kirche mit vergoldeter Kuppel, Sinnbild der Nostalgie des vom Kinderglauben Abgefallenen und der verborgenen Schuldgefühle eines Mannes, der sich doch längst jenseits von Gut und Böse wähnt. In der Tat sind die Charaktere weniger getrieben von ideologisch-religiösen Motiven als von einer vagen Mischung aus Prinzipien, emotionalen Bindungen und, vor allem, schlichtem Eigeninteresse.

Man ist versucht, den Mangel an Tragik als eine Schwäche des Films auszulegen und als Zeichen, dass Scorsese seine besten Zeiten endgültig hinter sich hat. Doch womöglich steckt gerade hinter der gefühlten Leere nichts Geringeres als der künstlerische Nachvollzug eines gesellschaftlichen Wandels. The Departed scheint durchzogen von der Spannung zwischen zwei Welten und zwei Generationen: In Costello und Detective Ellerby (Alec Baldwin) stehen sich zwei alte Widersacher gegenüber, für die die Fronten noch klar verlaufen. Indem er einen zynischen Nihilismus predigt, zeigt Costello gerade, dass sein Denken noch in der von ihm so verbissen bekämpften Logik von Verrat, Sündenfall, Gnade und Erlösung verwurzelt ist. Er ist weniger auf Geld aus als auf den Triumph des Teuflischen über das verhöhnte Gute.

In den beiden jungen Spitzeln treffen Gut und Böse auf eine andere, subtilere und profane Weise zusammen. Dem rücksichtslosen und unverschämt souveränen Karrieristen steht ein verunsicherter, verletzbarer und einfach menschlicher Billy Costigan gegenüber. Beide verfolgen ihr Eigeninteresse, doch auf unterschiedliche Weise. Wer der Gute und wer der Böse ist, ist weiterhin klar. Doch es ist weniger klar, was beide trennt, in dieser Welt, in der Priester und Gangster gleichermaßen veraltet und provinziell scheinen.

In der Cinémathèque.

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