MARC EVANS: Unterkühlt

Bei „Snow Cake“ sind alle Voraussetzungen zu einem ansprechenden Film über den Umgang mit Behinderung und Anderssein gegeben. Doch der Film selbst ist vom Autismus- Syndrom geprägt.

Einfühlsam, aber als Alienjägerin doch überzeugender: Sigourney Weaver als Autistin in „Snow Cake“

Schon wieder ein „Sie sind fast wie wir“-Film? Seit „Rainman“ 1988 gab es in der Tat mit „Forrest Gump“, „Regarding Henry“, „A Beautyful Mind“ oder „I am Sam“ immer wieder Filme, in denen geistige oder körperliche Behinderungen, Krankheiten oder umgekehrt die Tragik des Genie-Schicksals die Hauptrolle spielen. Meist mit großem Kinoerfolg. Hier spielt Sigourney Weaver eine Frau, die vom Asperger-Syndrom betroffen ist – einer leichten Autismus-Variante, die sich durch Sprachbehinderung, repetitives Verhalten und Ablehnung sozialer Interaktion bei häufig normaler Intelligenz ausdrückt. Hat Guardian-Kritiker Philip French also Recht, wenn er von „Snow Cake“ recht gehässig meint: „It’s dull, unrevealing, well acted and gives Weaver one of those roles as a handicapped person with special gifts and insights that begs for and frequently receives Oscar nominations“?

Ja und nein. „Snow Cake“ versteht sich nicht in erster Linie als Film über Autismus, sondern eher als die Reise eines schicksalsgeprüften Mittfünfzigers zu sich selbst, in dem die Geschichte von Linda (Sigourney Weaver), einer von Autismus betroffenen Frau, eine wichtige Station darstellt. Der Brite Alex Hughes, gespielt von Alan Rickmann, begibt sich auf eine Reise nach Ontario. Über seine Gründe erfahren wir lange nichts. Gleich zu Anfang aber macht Alex eine Bekanntschaft mit Vivienne, einer jungen Frau, die sein Leben verändern wird. Alex und Vivienne, die bei ihm eine Mitfahrgelegenheit gefunden hatte, haben einen Verkehrsunfall, der für sie tödlich ausgeht. Daraufhin macht sich Alex auf die Suche nach ihrer Mutter Linda.

Eher als ein tragisches Road Movie spult sich hier die Geschichte einer Zufallsbekanntschaft und ihrer Konsequenzen ab, die scheinbar willkürlich doch zu einem Dreh- und Angelpunkt in Alex‘ Leben werden und dazu beitragen, dass die dunklen Flecken in seiner Vergangenheit wieder sichtbar werden.

Marc Evans, bislang eher im lokalen Filmgeschäft tätig, ist in den letzten Jahren durch Mysterythriller bekannt geworden. Mit dem Beziehungsdrama „Snow Cake“ hat er nun eine britisch-kanadische Koproduktion unterzeichnet. Alan Rickmann, bekannt aus „Harry Potter“ oder der britischen Komödie „Love Actually“, gibt denn auch den flegmatischen britischen Alien, der im kanadischen Ontario wegen seines Akzents bestaunt wird. Alex‘ Auseinandersetzung mit der autistischen Linda ist von viel trockenem Humor à l’anglaise gekennzeichnet. Sigourney Weaver, durch Thriller wie Alien oder Copycat zum Star geworden, zeigte zuletzt in „Ice Storm“, dass sie auch andere Register ziehen kann. Hier gelingt ihr eine glaubhafte, aber doch nicht wirklich greifbare Linda. Auch Carrie-Anne Moss als Dorfschönheit, die Alex‘ den Kopf verdreht, bringt es nicht fertig, dem Film Leben einzuflößen.

Denn obwohl der Film gut strukturiert ist, die Geschichte ansprechend, die Dialoge oft witzig und die Hauptrollen mit versierten SchauspielerInnen besetzt sind, hebt der Film zu keinem Zeitpunkt richtig ab. Daran vermag auch die Filmmusik von Broken Social Scene nichts zu ändern. Der Fortgang der Geschichte ist meist voraussehbar, und die kleine Welt der Filmgeschichte teilt sich auf in Gutmenschen, die mit Linda umzugehen wissen, und dem biederen Dorf-Mainstream. Ohne peinlich sentimental oder gähnend langweilig zu werden, lässt Evans‘ Werk doch Emotion vermissen. Vor allem die zentrale Figur des Alex Hughes vermag nicht zu berühren, nicht einmal, wenn sich gegen Schluss seine gesamte Lebenstragik entlädt.

Immerhin erleben wir in diesem Film eine Autistin, die auf Betroffenen-Foren im Internet als realistisch bewertet wird. Das mag nicht nur an Sigourney Weaver liegen, sondern auch an der Tatsache, dass Drehbuchautorin Angela Pell selbst Mutter eines autistischen Sohnes ist. Die Authentizität dieser Darstellung scheint – wenn schon nicht der Kritik – einem großen Teil des Publikums zu genügen. Und vielleicht auch der Oscar-Jury.

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Snow Cake, im Utopia


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