ANDREA ARNOLD: Der Bildschirm zum Hof

Überwachungsstaat und persönlicher Rachefeldzug werden in „Red Road“ zu Hauptelementen einer Geschichte in der nichts ist wie es scheint.

Blicke soweit das Auge sieht: „Red Road“ spielt mit den Zwängen der Überwachungsgesellschaft.

In vielerlei Hinsichten handelt es sich bei „Red Road“ um einen „typisch europäischen“ Film. Ein Merkmal trägt er vor allem: Die Fähigkeit, dem Zuschauer unbequeme Geschichten, fernab von Kitsch und Verklärung, nahe zu bringen. Intensiv und schonungslos verfolgt Andrea Arnold in diesem preisgekrönten Film den Rachefeldzug einer verletzten Frau.

Die Red Road ist eine wenig einladende Straße in den heruntergekommenen Suburbs der schottischen Metropole Glasgow. Eine Skyline aus turmhohen, bedrückenden Wohnhäusern prägt das Landschaftsbild – hinter den tausend Augen der Hochhäuser fristen tausende von Anonymen ein trostloses Leben. Auf ihren über 40 Monitoren überwacht Jackie (Katie Dickie) diese Landschaft. Sie ist Angestellte einer städtischen Wachgesellschaft, deren Kameras die Straßen Glasgows säumen. Trotz des eindeutig voyeuristischen Hauchs der diese Arbeit umweht, beobachtet Jackie „ihr“ Gebiet und dessen Einwohner mit einem gewissen Wohlwollen. Die verletzlich wirkende Frau scheint lieber das Leben auf einem Bildschirm zu beobachten, wo es ihr vermeintlich nicht mehr wehtun kann, als aktiv daran teilzunehmen. Bis sie eines Nachts den Mann auf ihrem Bildschirm erkennt, der ihr Leben vor acht Jahren zerstört hat:Clyde (Tony Curran). Sie fängt an ihn zu verfolgen, zuerst nur mit den Kameras, dann hängt sie sich persönlich an die Fersen dieses Mannes.

Dem Zuschauer sind die genauen Beweggründe Jackies noch völlig fremd; obwohl man sich denken kann, was sie erlebt hat, bleibt die Spannung bis zum Schluss erhalten – wobei Spannung hier vor allem als Intensität der Handlung zu verstehen ist. Man beobachtet Jackie beim Beobachten.

Dank einer realitätsnahen Kameraführung fühlt man sich mehr denn je im Kino als Voyeur, der der Protagonistin über die Schulter schaut. Die Kamera ist bei allem in vorderster Front: Ob bei Jackies Detektivspielen, beim Teekochen Ù oder beim Sex. Über Sinn oder Unsinn der Darstellung eines Cunnilingus in einem Film könnte man streiten, Fakt ist, dass die sehr detaillierte Sexszene absolut in den Rahmen dieses Films passt und auch in gewisser Weise konsequent ist. So (scheinbar) erbarmungslos wie Jackie ihren Rachefeldzug betreibt, so konsequent sind ihr Kamera und Zuschauer im Nacken.

Das entscheidende Stichwort ist gefallen: Es ist Rache, die Jackie antreibt. Ihr wurde das Wichtigste in ihrem Leben genommen – ihre Familie – und nun will sie, wenn sie sie schon nicht zurückhaben kann, den Verlust gesühnt sehen. Doch je näher sie ihm kommt, erscheint der „Täter“ immer weniger ein Monster. Auch Clyde hat eine Geschichte und seine Version der Geschehnisse, die ihre beiden Leben umgeworfen haben. So gelingt es dem Film, ein extrem realistisches Bild einer unvorstellbaren Situation zu zeichnen, ohne dem Zuschauer eine Antwort, gar eine Moral aufzudrängen. Denn diese Fragen bleiben auch zum Schluss noch offen: Wie gerecht ist das Recht und wie selbstgefällig ist Selbstjustiz?

Sehr subtil werden andere Themen gestreift, fast en passant mitgenommen, etwa die Konsequenzen einer Überwachungsideologie oder das sehr reale soziale Elend einer europäischen Großstadt. Der Fokus ist und bleibt jedoch bei Jackie und ihrer Konzeption von Schuld und Sühne. Das Spektakulärste an „Red Road“ ist, dass trotz des gefühlten Schlags in der Magengrube den er hinterlässt, zum Schluss eine verstörende und doch beruhigende Erkenntnis überwiegt: Das Leben geht weiterÙirgendwie.

„Red Road“, im Utopia


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