RYAN FLECK / ANNA BODEN: Half Nelson

Der Indie-Film Half Nelson richtet einen poetischen Blick auf das heftige und sanfte Ringen, das man Leben nennt.

Anders als der Full Nelson, bei dem der Ringer seinen Gegner von hinten mit beiden Händen am Nacken packt, dient der Half Nelson nicht dazu, den Gegner festzunageln. Eine Hand hält ihn im Schwitzkasten, bevor die andere ihn herumreißt und in eine neue Umklammerung führt. Wer die Hand im Nacken spürt, wartet mit angespannten Muskeln auf den nächsten Griff. Man ist im Nachteil, aber nicht ohne Hoffnung. Auch in Ryan Flecks und Anna Bodens Film wird wacker gerungen und geklammert, auch wenn die Kräfte, die miteinander im Clinch liegen, zum Glück so uneindeutig wie das Leben selbst bleiben.

Dan (Ryan Gosling) ist nicht gerade das, was man als ausgeglichene Person bezeichnen würde. Tagsüber lehrt er Geschichte an einer Highschool in Brooklyn und versucht, mit einer Einführung in Dialektik und historischen Materialismus das politische Bewusstsein seiner afroamerikanischen SchülerInnenzu wach zu kitzeln. Sein eigenes Bewusstsein erweitert er nach Dienstschluss mit Kokain und Crack-Joints, bevor er sich die Nächte mit zärtlichen, aber unverbindlichen und folgenlosen amourösen Abenteuern um die Ohren schlägt.

Veränderung entsteht durch Gegendruck, skandiert Dan vor seiner Klasse. Doch seine eigenen inneren Konflikte und Gewohnheiten scheinen sich eingependelt zu haben. Manche Menschen verändern sich, hält ihm seine Ex-Freundin vor, die nicht länger darauf warten will, dass ihr großes Baby erwachsen wird. Und doch gibt es Bewegung im Leben des jungen Lehrers: Einen Abwärtstrend, den er sich selbst nicht eingestehen will. Die Drogen verstärken ihre Umklammerung und greifen aus dem nächtlichen Bereich rot beleuchteter Bars und verlangender Körper auf den Tag über. Als geschulte Materialisten warten wir auf den Augenblick, wo die quantitative Veränderung zum qualitativen Sprung führt.

Dass Half Nelson weit mehr ist als ein Film über Drogenkonsum, Entfremdung, gelebte Sackgassen und ungelebte Träume, verdanken wir der zweiten Hauptfigur. Als die dreizehnjährige Drey (Shareeka Epps, wie alle Schauspieler überragend) ihren Lehrer beim Crackrauchen ertappt, entwickelt sich zwischen den beiden ein unkonventioneller Bund, den anfangs nur ein geteiltes Geheimnis zusammenhält.

Es ist das selbstbewusste Mädchen, hinter dessen spärlicher Mimik jederzeit ein warmes, wie aus dem Nichts aufleuchtendes Lächeln lauert, das die Initiative ergreift und um die Freundschaft ihres Lehrers wirbt, während dieser sich bald fürsorglich annähert, bald abgehoben distanziert. Sucht sie einen Freund, eine Vaterfigur, einen Ersatz für ihren älteren Bruder, der wegen Drogendealerei im Knast sitzt, eine erste Liebe? Sie weiß es wohl selbst nicht. Was Half Nelson so ungemein sehenswert und wohltuend macht, ist gerade die perfekt ausbalancierte Spannung zwischen den Leitmotiven und Symbolen, die den Film durchziehen und ihm eine feste narrative Struktur verleihen, und zum anderen den vielen Unbestimmtheiten und Uneindeutigkeiten, die sich um diese Linien ranken und sie wieder teilweise verwischen. Half Nelson fühlt sich an wie das Leben selbst, mit all seinen prallen Lücken und widerspenstigen Ungereimtheiten, nur ein wenig sinnvoller und um ein paar Nuancen schöner, wie in ein poetisches und liebevolles Licht getaucht, das nur die Filmkamera einzufangen vermag. Man verlässt das Kino als kurzzeitig besserer Mensch und fragt sich, welche Schönheit sich auftäte, könnte man nur diesen sanften Kamerablick auf das eigene Leben richten.

Trotz der ernsten Thematik des Indie-Films geht von jeder einzelnen Szene ein melancholischer, verhaltener Optimismus aus. Es ist der Optimismus des Ringers, nicht der der sich seines Sieges sicher wähnt, sondern der die Hand im Nacken fühlt und sich versichert, dass Niederlagen selten vollkommen und endgültig sind und dass das Ringen weitergehen wird, bald heftig, bald zärtlich wie ein Liebesspiel.

Gilles Bouché


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