GEFUNDEN: Ein spätes Geschenk

Der nun veröffentlichte Jugendroman Jean Amérys ist ein Meisterwerk des Humanismus.

Unmöglich zu bleiben, wer man ist, unmöglich, ein anderer zu werden: Jean Améry.
(Foto: Lutz Möhring)

Als Jean Améry 1935 die Arbeit an seinem ersten Roman „Die Schiffbrüchigen“ abschloss, war er knapp 23 Jahre alt. Über siebzig Jahre sollte es jedoch dauern, bis der Roman bei Klett-Cotta zur Veröffentlichung kommen würde. Während des Krieges galt das Buch dem Autor als verloren, als er das Manuskript 1949 zufällig wiederfand, blieb der Versuch einer Publikation ohne Erfolg. Nach abermaliger Lektüre schwankte Améry damals zwischen der Ansicht, „es tauge nichts“ und jener, es sei „stellenweise hervorragend“. Unter Bezug auf die letztere Bemerkung ist ihm unbedingt zuzustimmen – es ist hervorragend.

Hat man sich einmal von dem Erstaunen darüber freigemacht, dass viele Motive des späteren Schaffens großer Autoren – so auch Amérys – bereits in ihrem Frühwerk erstaunlich präzise durchdacht aufzufinden sind und gibt sich ganz der Kraft des Werkes hin, dann hat man mit „Die Schiffbrüchigen“ ein Buch vor sich, das nuanciert den sich verwirklichenden Ungeist der Vorkriegszeit beschreibt.

Die Geschichte setzt ein im Wien des Jahres 1933. Im Nachbarland ist seit Kurzem Adolf Hitler an der Macht. Auch in Österreich sind völkische Ideologie, Antisemitismus und andere reaktionäre Denkformen verbreitet. Fortschrittliches Gedankengut und Versuche, sie zur gesellschaftlichen Praxis kommen zu lassen, sind chancenlos. In diesem Klima lebt der junge Eugen Althager, seit vier Jahren arbeitslos, ein „Schiffbrüchiger“, Gescheiterter, wie alle Protagonisten des Romans, die sich dem (Un-)Geist der Zeit verweigern. Das Buch begleitet Althager die kommenden zwei Jahre, durch ihn bekommen wir einen Blick auf diese Zeit, mittels seines analytischen Instrumentariums nähert sich der Leser den Fragen nach den Ursachen des heraufziehenden Wahns. Man gewinnt auch einen Einblick in den Alltag der Individualisierten, sozial Deklassierten, was sich bei Eugen Althager durch den Umstand, dass er Jude ist, noch vielfach verschärft.

„Erst langsam und schwierig brach das Wissen in ihm auf, daß ihn die Zeit mit allen anderen seiner Rasse verfemt hatte“, ist über den assimilierten Juden Althager zu lesen, seine „Schuld war es wohl, daß er nicht wusste, worin seine Zugehörigkeit zu dieser Rasse bestand.“ Nie wäre es ihm jedoch eingefallen, sich angesichts des Unheils zu distanzieren. Eine Haltung, welche die Hauptfigur des Romans mit seinem Autor verbindet.

Verfemt

Jean Améry wurde 1912 als Hans Maier in Wien geboren. 1938 floh er vor den Deutschen nach Antwerpen. Dort wurde er 1940 als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und in ein Internierungslager nach Südfrankreich deportiert, von wo ihm 1941 die Flucht gelang. Der im Brüsseler antifaschistischen Widerstand aktive Améry wurde schließlich im Juli 1943 von der Gestapo festgenommen, schwer gefoltert und überlebte den Aufenthalt in verschiedenen Konzentrationslagern. Von über 25.000 deportierten Juden aus Belgien war er einer der 615 Überlebenden. „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt“, wird er später schreiben. Im Oktober 1978 nahm sich Améry das Leben.

„Die Schiffbrüchigen“ ist keinesfalls nur ein seismographisches Dokument der frühen Dreißigerjahre, es zeigt bereits das große Können nicht nur des berühmten Essayisten, sondern auch des Romanciers Améry. Die Zärtlichkeit und das feine Mitfühlen mit den Leidenden, die er zum Ausdruck bringt, paaren sich mit der Wut und der Weigerung, die Zustände zu akzeptieren, die solches Leid zu verewigen drohen.

Der erste Band der Werkausgabe ist ergänzt um einen umfangreichen Anhang zur Entstehungsgeschichte des Romans, sowie um den Roman „Lefeu oder Der Abbruch“, ein Spätwerk Amérys von 1974, in dem er sich auf „Die Schiffbrüchigen“ bezieht.

Jean Améry –
Die Schiffbrüchigen.
Mit einem Nachwort von Irene Heidelberger-Leonard. Verlag Klett-Cotta. 333 Seiten.

Jean Améry – Werke, Band1. Die Schiffbrüchigen / Lefeu oder Der Abbruch. Herausgegeben von Irene Heidelberger-Leonard. Verlag Klett-Cotta. 700 Seiten.


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