GEFÄNGNISPOLITIK: Strafe muss sein

Das Gefängnis spiegelt immer auch den Grad der Zuspitzung der sozialen Widersprüche innerhalb einer Gesellschaft wieder. Ein Streifzug durch die Geschichte des Strafvollzugs.

„Mein Papa hinter Gittern.“
Gemalt von Kindern Inhaftierter –
im Rahmen des Projekts „Treff-Punkt“.

„Der mittelalterliche Handwerker lief mit einem ebenso ruhigen Herzen die Foltertürme entlang, wie der Angestellte des 20. Jahrhunderts entlang des Gefängnisses radelt.“
(Herman Bianchi)

„Für uns Gefangene soll und darf sich niemand einsetzen. In Luxemburg bevorzugt man es, die Gefangenen wegzusperren. Und dann alle Verbindungen nach draußen zu kappen, damit sie auf ewig isoliert sind. Das heißt, sie werden sich nie mehr in der freien Welt zurechtfinden können.“ Der sich hier über das Gefängnissystem in Luxemburg äußert, meint zu wissen, wovon er spricht. Immerhin wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Er heißt Nico Reisdorff und gilt als einer der brutalsten Kriminellen, die das Großherzogtum in den vergangenen Jahrzehnten gesehen hat. Gemeinsam mit seiner „Waldbëlleger“-Bande hat er sechs Tote, dreizehn Verletzte und unsägliches Leid zu verantworten.

Ist von der Reform oder Überwindung der Freiheitsstrafe die Rede, bezieht man, möchte man redlich sein, also besser auch die Existenz von Kriminellen wie Nico Reisdorff mit ein. Beim Gedanken an Menschen wie ihn, zumal an den Nico Reisdorff der Achtzigerjahre, wird wohl den meisten jeder Gedanke an liberale Alternativen zum geschlossenen Strafvollzug, wenn nicht gar irrsinnig, so doch schlicht unmöglich erscheinen. Der Zusammenhang von Kriminalität und Freiheitsstrafe erscheint gerade in Fällen wie jenem der „Waldbëlleger“ überaus evident: Diesen Leuten soll nie mehr die Möglichkeit gegeben werden, anderen Gewalt anzutun.

Kritische Stimmen bleiben in einem solchen Härtefall eher die Ausnahme. So warnte etwa Jhos Levy vor einigen Jahren in einem Artikel im „Land“ gerade angesichts der Person Reisdorffs vor den „einfachen Lösungen“ mit der „harten Hand“. Ohne die Verantwortung für seine Verbrechen zu relativieren, müsse man auch die Bedingungen berücksichtigen, unter denen etwa Reisdorff aufgewachsen ist. Dann zeige sich, dass auch die Gesellschaft in gewissem Maße mitverantwortlich sei.

„Fest der Martern“

In der allgemeinen Entrüstung über die unfassbare Brutalität eines solchen Schwerverbrechers geht auch gerne eines unter: Die Gefängnispopulation besteht nur zu einem geringen Teil aus Menschen, die sich für auch nur annähernd vergleichbar schwere Taten zu verantworten haben. Orientiert sich also die Gefängnispolitik eines Staates tatsächlich nur an der Kriminalität, vor welcher er als Inhaber des Gewaltmonopols die Gesellschaft zu schützen sich verpflichtet hat? Oder reflektiert das Gefängnis immer auch die allgemeinen Bedingungen, unter denen diese Gesellschaft funktioniert? Ein Blick in die Geschichte der Strafvollzugsysteme und der mit ihnen verbundenen Straftheorien zeigt: Die Geschichte unserer Gefängnisstrukturen ist auch die Geschichte der sozialen Widersprüche.

Während es im frühen Mittelalter kaum Verstöße gegen das Eigentumsrecht gab, ändert sich die Situation im späten Mittelalter gravierend. Bevölkerungswachstum und zunehmende Weidewirtschaft führen zu einer Verknappung des Bodens. Heere von Besitzlosen entstehen, Bettler durchstreifen das Land. Die Schere von arm und reich öffnet sich, soziale Unruhen und Eigentumsdelikte nehmen rapide zu. Ihnen gegenüber bleiben Geldstrafen sinnlos. Je ärmer die Massen werden, desto grausamer und blutiger wird das öffentliche „Fest der Martern“ (Foucault), das vor Verbrechen abschrecken soll.

Ganz anders wiederum die Situation im 17. Jahrhundert: Kriege und Seuchen führen dazu, dass es zunehmend an Arbeitskräften mangelt. Die aufkommende merkantilistische Wirtschaftsweise bedeutet zudem, dass mehr exportiert als importiert werden muss. Genuss und gutes Lebens werden verpönt, das protestantische Arbeitsethos wird kultiviert. Hier wurzelt gewissermaßen das moderne Gefängnissystem. Die Sozialforscher Otto Kirchheimer und Georg Rusche schreiben hierzu: „Das Zuchthaus war im wesentlichen eine Verbindung von Armenhaus, Arbeitshaus und Strafanstalt. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Arbeitskraft unwilliger Menschen sozial nutzbar machen. Indem die Gefangenen zur Arbeit innerhalb der Anstalt gezwungen wurden, sollten sie zugleich zum Fleiß erzogen und beruflich ausgebildet werden.“

Doch wer soll für was und vor allem nach welchen Kriterien bestraft werden? Bis dato konnten die Richter das Strafmaß recht willkürlich bestimmen, nun wird dies wie auch unklar formulierte Gesetzestexte attackiert. Das Strafrecht soll formalisiert werden, das aufstrebende Bürgertum kämpft damit auch gegen die Macht derer, die bislang von der Willkür profitierten: die Feudalherren.

In der Tretmühle

Von nun an sollen Verbrechen und Strafen strikt verknüpft werden. So sollen etwa Taten, die nicht mit Gewalt verbunden waren, vorwiegend mit Geldstrafen geahndet werden. Dies aber hat für die verschiedenen Gesellschaftsschichten unterschiedliche Folgen: Eigentum und persönliche Freiheit werden als gleichwertig betrachtet, wer nicht bezahlen kann muss ins Gefängnis. Der Aufklärer Beccaria rief angesichts dessen 1766 empört aus, dass Diebstahl „für gewöhnlich nur aus Not und Verzweiflung und nur von jenem unglücklichen Teil der Menschen begangen wird, dem das Eigentumsrecht (ein schreckliches und nicht notwendiges Recht) bloß die nackte Existenz gelassen hat“.

Mit dem Maschinenzeitalter, der Landflucht und der damit verbundenen industriellen Revolution entsteht das Proletariat, das nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat. Musste zuvor die Pflicht zur Arbeit von den oberen Klassen angemahnt werden, wird nun das Recht auf Arbeit zur sozialistischen Forderung. Auch dies reflektiert sich im Strafsystem: Dort zählt nicht mehr, was der Häftling arbeitet, sondern vornehmlich dass er arbeitet. Die produktive Gefängnisarbeit wird abgeschafft, ihre bessernde Wirkung wird ebenfalls nicht länger behauptet. Statt dessen werden Häftlinge mit unproduktiven Tätigkeiten gedemütigt, um ihnen vor Augen zu führen, dass sie aus dem Kreis der Gesellschaft, der nützlichen Produzenten, ausgeschlossen sind. So wird häufig die Tret- oder die Handmühle eingeführt, ein sinnloses Gerät, das ? ähnlich wie heutige Fitnesstrainer mehrstufig regulierbar ? um der Tätigkeit selbst willen stundenlang betrieben werden musste.

Anfang des 19. Jahrhunderts verschärft sich der Existenzkampf: Die Arbeiterklasse verarmt zunehmend, die Verbrechensrate steigt rapide an. „Was die europäische Gesellschaft mit ihrer industriellen Reservearmee brauchte, war eine Strafe, die sogar verhungernden Menschen Angst machen würde“, blicken Rusche und Kirchheimer zurück. Man will den Delinquenten nicht nur einschüchtern, man setzt auch auf seine moralische Läuterung. Beides soll die Einzelhaft gewährleisten, wie auf dem ersten internationalen Gefängniskongress 1846 in Frankfurt beschlossen und unter anderem in Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland eingeführt. Das Gefängnissystem wird nun gänzlich auf die Kontrolle des einzelnen Gefangenen ausgerichtet, was sich, wie etwa der Philosoph Michel Foucault gezeigt hat, auch in der Gefängnisarchitektur niederschlägt.

 

Diese drastische Entwicklung im Wesen des Strafvollzugs tastet erstaunlicherweise die Errungenschaften der Aufklärung nicht an. Anschaulich zeigt sich hier die Dialektik des Fortschritts. Rusche und Kirchheimer berichten, dass dieselben Strafgesetzbücher, „welche die grausamsten Strafvollzugssysteme enthielten“, zugleich „epochemachende Dokumente der Entwicklung der liberalen Theorie“ waren und die Grundlage der modernen Kriminaljustiz bilden. Unter anderem Hegel liefert die Grundlage für die Straftheorie der Vergeltung. Diese fließt bis heute – zwar nicht ausschließlich, aber immer noch – in die Strafrechtspraxis auch in Luxemburg mit ein, wie ein Blick beispielsweise in den Bericht der Juristischen Kommission zur Inneren Sicherheit vom März 2007 zeigt, worin es heißt: „…la peine frappe le coupable, mais cette arme de la politique criminelle n’a pas pour unique but de punir et châtier. Un certain effet préventif est également attendu de cette sanction.“

Den Verbrecher „ehren“

Der grundlegende Gedanke, um den sich Straftheoretiker bis heute streiten: Hegel argumentiert für die Entfernung aller individuellen Aspekte aus dem juristischen Verhältnis zwischen krimineller Handlung und Strafrecht. Er will von den Bedingungen der Sozialisation absehen, die für den Resozialisierungsgedanken gerade von Bedeutung sind. Nur wenn sich Art und Maß der Strafe ausschließlich nach der kriminellen Tat orientierten, werde der Einzelne als Subjekt mit seinem Willen voll anerkannt, oder, wie Hegel es formulierte, „als Vernünftiges geehrt“.

Einerseits konfrontierte er damit die nachfolgenden, humanistisch motivierten Resozialisierungstheoretiker mit dem Vorwurf, Straffällige entmündigen zu wollen. Andererseits verhüllte diese nicht nur von Hegel geführte Argumentation das gesellschaftliche Verhältnis, das gleichwohl immer noch auf Gewalt und sozialer Ungleichheit basierte. Formelle Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet auch, wie Anatole France schrieb, dass es Bettlern und Millionären gleichermaßen verboten ist, Brot zu stehlen und unter Brücken zu schlafen.

Auch die nächste Gefängnisreform steht im Zeichen einer veränderten Gesellschaft: Imperialistische Politik und massive Expansion der industriellen Produktion haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Entlastung des Arbeitsmarkts und zu besseren Löhnen geführt. Fortan wird jeder Mensch als verantwortlicher Produzent angesehen, ihn lange wegzusperren, bedeutet auch den Verlust seiner Produktivität, argumentiert 1870 etwa der im luxemburgischen Frisange geborene Jurist Emile Worms.

Dieser ökonomischen Herangehensweise setzt der belgische Reformer Adolphe Prins das Soziale gegenüber. Er kritisiert 1886, dass weder die französische Gesetzgebung aus dem Jahr 1810 noch die belgische von 1860 das Strafrecht als eine Sozialwissenschaft betrachtete, welche auf Untersuchung der sozialen Gegebenheiten beruhe. Bei den folgenden Reformen steht also nicht das Verhältnis zwischen Delikt und Strafe im Vordergrund, sondern die Zukunft des Straffälligen und der Gesellschaft, die Rehabilitierungsaussicht und die Rentabilität der vorbeugenden Maßnahmen. So werden Haftstrafen häufig durch andere Strafarten ersetzt, kürzere Haftzeiten verhängt, sogar die Abschaffung überfüllter Gefängnisse wird erreicht.

Auch diese Grundsätze fließen maßgeblich in das heutige Strafrecht nicht nur Luxemburgs mit ein. Als Spezial- und Generalprävention sollen sie einerseits abschrecken, andererseits soll die Spezialprävention resozialisierend auf den Täter wirken, während die Generalprävention die Rechtstreue der Allgemeinheit fördern soll.

Das Alte im Neuen

Bis zum heutigen Tage bewegt sich die Diskussion zwischen den beiden dargestellten Polen – der Präventions- und der Vergeltungstheorie. Daneben gilt die Diskussion der neueren Zeit vor allem der Disziplinierungsfunktion des Gefängnisses. Noch in den Dreißigerjahren wird diese vom französischen Juristen Léon Belym gepriesen, sie führe zur Einhaltung gesellschaftlicher Normen. Vierzig Jahre später versucht Foucault das selbe Argument kritisch zu wenden. In „Überwachen und Strafen“ schreibt er, die „Verfeinerung der Strafpraktiken“ bedeute einen Angriff auf die Integrität des Individuums selbst, aus dem „düsteren Fest der Strafe“ werde die diskrete Attacke auf den Geist.

Allerdings wird dieser Gedankengang nicht zuletzt in der gegenwärtigen Situation von konservativen Anhängern der Vergeltungstheorie freudig aufgegriffen. Ausgerechnet rechtspolitische Hardliner verweisen nun auf die mit den Präventionstheorien verbundene Gefahr, Strafe „sicherheitspolizeilich“ zu instrumentalisieren und damit die „Subjektstellung des Täters“ zu beschädigen.

Indes verdient die heutige Reformbewegung ihren Namen kaum: Nach dem Niedergang der sozialen Bewegungen spielt auch die Suche nach Alternativen zur gegenwärtigen Strafpraxis in Europa kaum mehr eine Rolle. Statt dessen geht es um die Restaurierung des bestehenden Systems. So kann dann beispielsweise der konservative Regensburger Rechtsphilosoph Michael Pawlik triumphierend das „Ende der Resozialisierungseuphorie“ verkünden. Er fordert die Rückkehr zum Primat der Vergeltungstheorie. Auch im Geiste der Resozialisierung, analysiert Pawlik ebenso treffend wie kühl, gehe man im übrigen „mit verurteilten Straftätern zumeist wenig gnädig um. Eine längere Gefängnisstrafe hat massive, häufig sogar desaströse Auswirkungen auf den sozialen Status der Betroffenen“.

Die Renaissance der Vergeltungstheorie kommt nicht von ungefähr. In Europa schreitet der Abbau sozialstaatlicher Institutionen voran, soziale Hilfen werden auf ein Minimum reduziert. Kaum vorstellbar, dass im Gefängnis aufwändige Maßnahmen zur Hebung des sozialen Status Inhaftierter finanziert werden, während draußen jeder selbst sehen muss, wo er bleibt. Eine Besserung der Lage von Inhaftierten über die Situation der untersten Schichten der Gesellschaft hinaus, formulierte es Georg Rusche einmal allgemein, stünde letztlich auch der Abschreckungsfunktion der Haftstrafe entgegen. In jedem Fall bleibt die soziale Situation hinter Gittern eng mit der außerhalb der Gefängnismauern verbunden.

Um dies zu verdeutlichen und auch um Alternativen zum Strafvollzug zu formulieren, braucht es entsprechende gesellschaftliche Untersuchungen. Gerade diese fehlen jedoch in Luxemburg. Bereits in international vergleichenden Studien zum Thema bleibt das Großherzogtum – wie so oft – auch hier eine detailliertere Auskunft schuldig. Mehr noch: Die Journalistin Ines Kurschat berichtete im August 2007 im „Land“, ihre Anfrage, ausländische Strafgefangene zu befragen, sei vom Gefängnisdirektor abgelehnt worden. Auch für wissenschaftlich begleitete Befragungen der Insassen sei Luxemburgs Gesellschaft nicht reif.

Dennoch: Aussagen wie die von „info-prison“-Aktivist Jeannot Schmitz, achtzig Prozent oder mehr der Häftlinge hätten keine Ausbildung (woxx 923), oder jene, dass ebenfalls mehr als achtzig Prozent der Untersuchungsgefangenen im Jahr 2005 wegen Drogendelikten eingesessen sind, sprechen eine deutliche Sprache. Den Zusammenhang zwischen konkreten Lebensbedingungen und der erhöhten Wahrscheinlichkeit, straffällig zu werden, wird niemand bestreiten können.

Die Geschichte des Strafvollzugs ist also nicht nur eine „Geschichte“, die aus der heutigen Perspektive nur noch Staunen und Gruseln lehrt. Auch heute noch ist das Gefängniswesen ein „Wahrzeichen der Gesellschaft“, in der wir leben, wie es der Philosoph Max Horkheimer formulierte. Aus der historischen Perspektive betrachtet, verhüllt die heutige Form der Repression nicht länger die Symptome sozialer Probleme mit einer „Illusion der Sicherheit“ (Kirchheimer). Unverhüllt zeigt sich dann auch der Charakter einer Politik, die nach wie vor lieber am Plan für ein Untersuchungsgefängnis bastelt, anstatt etwa an einem Paradigmenwechsel in der Drogenpolitik.


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