LISSABON-STRATEGIE: Geld ist alles

Die Lissabon-Strategie soll Nachhaltigkeitsziele berücksichtigen. Luxemburg dagegen hat sich blindem Wachstum verschrieben. Die Einwände der KritikerInnen verhallen ungehört.

Ausstellung „All we need“, Belval-Ouest, 2007

„Wachstum ist kein Selbstzweck.“ Es war ausgerechnet Pierre Bley, der Vertreter der „Union des entreprises luxembourgeoises“ (UEL), welcher während des Chamber-Hearings am Donnerstag vor einer Woche diese Relativierung der Lissabon-Strategie vornahm. Diese seine Aussage relativierte er allerdings sogleich wieder. Wer das Wachstum in Frage stelle, so Bley, müsse auch Ansprüche in anderen Bereichen revidieren.

Ziel dieser 2000 beschlossenen und 2005 überarbeiteten Lissabon-Strategie ist es, die EU bis zum Jahr 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Diese Entwicklung soll auf drei Säulen aufsetzen: Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt und Umweltschutz. In der Praxis kommt der ersten dieser Säulen aber die Hauptrolle zu. In Luxemburg ist es wie in vielen EU-Staaten der Wirtschaftsminister, der die Rolle des Koordinators der Lissabon-Strategie übernommen hat. Jeannot Krecké leitete denn auch das Hearing am 10. April, wie schon zuvor jenes am 5. März, gemeinsam mit Alex Bodry, dem Präsidenten der parlamentarischen Wirtschaftskommission.

Die Frage nach dem Stellenwert der beiden „Nebensäulen“ war bei jener ersten Sitzung aufgeworfen worden (siehe woxx Nr. 944). Zweifel gab es vor allem, ob unter umwelt- und entwicklungspolitischen Gesichtspunkten diese zentrale Rolle des Wirtschaftswachstums mit den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung vereinbar seien. So zählte der deutsche Experte Joachim Spangenberg unnachhaltige Entwicklungstrends in Luxemburg auf, an erster Stelle natürlich die „ungebremste Klimaänderung vor allem durch wachsenden Energieverbrauch“.

Doch die erfrischende grundsätzliche Kritik, mit der Regierung und Parlament beim ersten Hearing konfrontiert waren, blieb in der zweiten Auflage aus. So werden diese Ansätze kaum Eingang finden in den zweiten Lissabon-Reformplan, den die Regierung im Herbst erstellen wird. Obwohl das Thema Umwelt und Nachhaltigkeit als zweiter von drei Punkten am Donnerstag vergangener Woche auf der Tagesordnung stand, wurden die aufgeworfenen Fragen nicht vertieft … weil die Bank der Umweltlobby leer blieb.

Vorschläge, die „nur“ Geld kosten, sind konsensfähig, denn sie legitimieren den Diskurs der Wirtschaftslobbies, ökonomischer Erfolg sei die Voraussetzung für soziale und Umweltmaßnahmen.

Das hatte einen praktischen Grund: Zeitgleich veranstaltete nämlich der Mouvement écologique ein Seminar zur Energieberatung. Über die terminliche Überschneidung hinaus dürfte aber auch eine gewisse Frustration über vergangene Hearings eine Rolle gespielt haben. „Unsere Vorschläge von vor zwei Jahren wurden nicht in den ersten Reformplan aufgenommen“, erklärt Mouvement-Präsidentin Blanche Weber. „Wir haben die gleiche Stellungnahme noch einmal eingereicht.“ Sie bemängelt auch die Form der Lissabon-Hearings, die kaum mehr als eine Aneinanderreihung von Statements seien. Auch Alex Bodry ist nicht ganz zufrieden: „Lissabon ist ein breit gefächertes Thema. Wir haben noch nicht den Dreh gefunden, um in den Hearings zu konkreten Schlussfolgerungen zu kommen.“ Positiv bewertet er aber, dass die zweite Sitzung „lebendiger“ verlief.

In der Tat gab es zwischen den Hearing-TeilnehmerInnnen einen Dialog und sogar weitgehenden Konsens. So sprachen sich alle RednerInnen für Schulreformen aus, für Forschung und Innovation, für neue Eisenbahnlinien sowie für administrative Vereinfachungen für Unternehmen. Auch die Schaffung von Kindertagesstätten wurde allerseits gefordert, wenn auch mit verschiedenen Begründungen. Einmal wurde die Betreuung als eine Art Armutsbekämpfung dargestellt – weil sie Erziehenden die Möglichkeit gibt, erwerbstätig zu sein. Dann wiederum wurde die Förderung von Betreuungsangeboten als Maßnahme angesehen, um „das einzige nationale Arbeitskräfte-Reservoir“ anzuzapfen, und schließlich einfach als Infrastruktur zur Verbesserung der Lebensqualität.

So sinnvoll diese politischen Maßnahmen auch sein mögen, es fällt auf, dass sie nicht mit den wirtschaftlichen Zielen in Konflikt geraten, außer vielleicht jenem des ausgewogenen Staatshaushalts. Mit anderen Worten: Die konsensfähigen Maßnahmen kosten Geld, sind aber ansonsten mit Wachstum vereinbar. Mehr noch: Je mehr sie kosten, umso stärker legitimieren sie den Diskurs der Wirtschaftslobbies, ökonomischer Erfolg sei die Voraussetzung für soziale und Umweltmaßnahmen.

Dass Wachstum ohne Wenn und Aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, wurde – allerdings weniger explizit – bei anderen Diskussionspunkten klar. Die schärfste Kritik kam vom Chargé de direction der Caritas, Robert Urbé. Er griff die Aussage Jeannot Kreckés auf, man müsse Maßnahmen treffen zu Gunsten der wirklich Armen. „Die Aussetzung des Index durch die Tripartite hat gerade jenen Menschen geschadet“, so Urbé, „also müssten Sie diese Maßnahme rückgängig machen.“ Beim ersten Hearing waren nämlich die Tripartite-Beschlüsse als Umsetzung der Lissabon-Strategie dargestellt worden.

Die Zielkonflikte wurden bei den Hearings nicht ausdiskutiert und dürften stillschweigend zugunsten der Wirtschaft entschieden werden.

Hier bewegt sich die LSAP auf schwierigem Terrain. Einerseits ist sie mitverantwortlich für die unsozialen Tripartite-Beschlüsse von 2006 – bei denen sie die Genossen aus dem OGBL im Regen stehen ließ. Andererseits sieht es seit Wochen so aus, als wolle sie einen „sozialen“ Wahlkampf führen, indem sie auf einmal ihren Sinn entdeckt für das, was den „einfachen Leuten“ Sorgen bereitet. Als da wären Indexeinbußen, Wassertaxen und steigender Ausländeranteil in der Wirtschaft.

Letzteres war beim Hearing ebenfalls Thema. Es wurde bedauert, dass kaum noch Luxemburger die strategische Position des Personalchefs besetzen, und dass die Rentenansprüche der Grenzgänger mehr Probleme schafften als ihre Sozialbeiträge lösen würden. Dennoch schien man sich einig zu sein, dass mehr Grenzgänger ein kleineres Übel darstellten als mehr Einwohner. Hätte man diesen Punkt im Sinne der Anregungen der Experten beim ersten Gremium ausdiskutiert, so wären die Widersprüche einer solchen Haltung klar geworden. Lionel Fontagné hatte in seinem Bericht von 2004 auf die Wichtigkeit der Integration der Ausländer hingewiesen – sicherlich leichter bei Einwohnern umzusetzen als bei Grenzgängern. Und Joachim Spangenberger stellte der Befriedigung der Mobilitätsnachfrage durch einen Ausbau des öffentlichen Verkehrs die von ihm favorisierte Alternative einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Transportbedarf gegenüber. Mit anderen Worten: Statt teure Schieneninfrastrukturen zu bauen solle man die Entfernung zwischen Wohn- und Wirtschaftszonen verringern.

Zahlreiche solcher Zielkonflikte hatte der deutsche Umweltökonom in seiner Intervention am 5. März aufgezeigt. Zum Beispiel sei die Lissabon-Forderung nach konkurrenzfähigen, also niedrigen Energiepreisen nicht vereinbar mit dem Nachhaltigkeitsziel, den Klimawandel zu begrenzen. Spangenberg hatte den deutschen Rat für nachhaltige Entwicklung zitiert: „Sofern solche Konflikte von grundsätzlicher Bedeutung sind, sollten sie offen angesprochen werden, um danach Wege zu suchen, wie sie entschärft oder sogar gelöst werden können.“ Nicht alle Konflikte ließen sich aber in Win-Win-Situationen auflösen, deshalb werde es Gewinner und Verlierer geben, so der Rat.

Bei den Hearings konnten solche Zielkonflikte jedenfalls nicht ausdiskutiert werden. Wie konfus die Debatte in Luxemburg verläuft, zeigt sich am Beispiel „Kostenwahrheit“. Im Bereich Wasserwirtschaft wird dieses Prinzip unter dem Beifall von Umweltschützern und Wirtschaftslobbies umgesetzt, bei den Energie- und Treibstoffpreisen dagegen wird seine Anwendung von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmervertretern blockiert. Man merkt, bei diesem Spiel gibt es Verlierer und einen Gewinner.

So dient die Lissabon-Strategie letztendlich der mächtigeren Lobby und dem mächtigeren Minister dazu, die Durchsetzung ihrer Interessen zu legitimieren. Die VertreterInnen von ökologischen und sozialen Interessen, mit knappen Ressourcen und untereinander zerstritten, spielen eine untergeordnete Rolle. Dass die Nebensäulen der Lissabon-Strategie eine tragende Rolle spielen müssten, wird man wohl erst erkennen, wenn das ganze Gebäude zusammenkracht.


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