JOHN CAGE: Kein Klavierkonzert

Vor 50 Jahren stellte der Avantgarde-Komponist John Cage die Musikwelt auf den Kopf. Auch wenn seine Werke heute keine Skandale mehr provozieren, laden sie immer noch zum Nachdenken ein.

John Cage in concert, 1958

„Diese Noten können mit oder ohne andere Parts für andere Musiker vorgetragen werden. Es handelt sich daher um einen Posaunensolopart oder eine Stimme in einem Ensemble, einer Sinfonie oder einem Klavierkonzert. Obwohl es zwölf Notenblätter gibt, kann eine beliebige Anzahl von ihnen benutzt werden (auch überhaupt keines).“ So lauten die Anweisungen an den Posaunisten auf der 180. Seite der Partitur des Klavierkonzerts von John Cage, das vor 50 Jahren, am 15. Mai 1958, in der Town Hall in New York uraufgeführt wurde.

Warum überhaupt eine Partitur bereitstellen, wenn am Ende die Musiker damit beliebig verfahren können? Die Brisanz dieser und anderer von John Cages Werk aufgeworfenen Fragen erklärt, warum jenes „Klavierkonzert“ als Meilenstein der Musikgeschichte angesehen wird. Seinerzeit hatte ein Teil der musikalischen Avantgarde den Sprengstoff entdeckt, mit dem sie das enge Korsett der seriellen Kompositionstechnik aufbrechen konnte: den Zufall. In dem Klavierwerk „Music of Changes“ von 1951 hatte Cage zum Beispiel auf das chinesische Orakel „Yi jing“ zurückgegriffen, um „zufällige“ Tonfolgen, Tempovariationen und andere Parameter und Anweisungen zu erzeugen. Die totale Freiheit beim Komponieren führte allerdings zu einer sehr detaillierten Partitur, also einer extremen Einengung der Möglichkeiten des ausführenden Pianisten.

Um auch diese Fesseln zu sprengen, griff Cage zu einem radikalen Mittel: Er komponierte Einzelstimmen für ein Klavierkonzert, mit denen die InterpretInnen sehr frei umgehen können. So heißt es in der Posaunenpartitur weiter zu den sehr hohen Noten: „[Sie] bezeichnen extrem hohe Klänge (oberhalb des hohen Es) oder Flageoletttöne; die Verwendung des Gehäuses einer Meeresschnecke; den Gebrauch des Mundstücks, mit oder ohne Schalltrichter, getrennt vom übrigen Instrument; das Bellen, Sprechen oder Schreien ins Instrument. Dies alles ist als Anweisung hinzugefügt, kann jedoch nach Belieben des Spielers gegen andere Geräuschelemente eingetauscht werden.“

Freiheit macht Spaß

Ein solches Stück, von dem kaum zwei Aufführungen gleich ausfallen, ist schwer zu beschreiben. Allenfalls lässt sich das Klangerlebnis charakterisieren. Ein paar Takte völliger Kakophonie, das Klavier beschleunigt den Rhythmus, dann das aufgeregte Gackern der Flöte, das Quietschen der Klarinette – so beginnt die Aufnahme des Ensembles „Barton Workshop“. Im Verlauf des Konzerts kommen unerhörte Klänge hinzu: Die Musiker schreien, brabbeln oder röcheln in ihre Instrumente. Auch die Pianistin demonstriert Vielseitigkeit: Sie erzeugt metallische Klänge, wenn sie die Saiten mit der Hand zupft, und Perkussionseffekte mit Hilfe kleiner Gegenstände, die zwischen die Saiten eingeführt werden – eine als „prepared piano“ bezeichnete, von Cage erfundene Technik.

Beim Hören treten die einzelnen Klänge in den Vordergrund. Das Ohr kann mehrere, völlig voneinander losgelöste Tonstränge verfolgen – wie im modernen Alltag: das Quietschen eines LKW, den Lockruf einer Amsel, das Plärren eines Radios. Die Ausgelassenheit, mit der die Barton-MusikerInnen an das Werk herangehen, ihre Freude am Geräusche machen ist spürbar. Aus dem Nebeneinander der Einzelstimmen wird, wohl weil sie aufeinander hören, ein Aneinander, doch kein wirkliches Miteinander. Mal sind die Tonfolgen aufstrebend, dann wieder sacken die Klänge in sich zusammen, mal scheint sich das Ensemble vorwärts zu bewegen, dann wieder auf der Stelle zu treten. Was man vermisst: ein musikalisches Thema, das exposiert und dann weiterentwickelt wird, eine Spannung, die aufgebaut und dann wieder gelöst wird. Stattdessen hört das Stück recht unerwartet auf.

Das Hörerlebnis ist nur eine Dimension von Cages Klavierkonzert, die andere ist etwas, das man als Konzept-Musik bezeichnen könnte. Die Vorstellung, dass man nur recht beliebige Teile einer Partitur in chaotischer Abfolge hört, regt zum Nachdenken darüber an, woher denn die „Ordnung“ in einer „normalen“ Komposition kommt. Andere berühmte Stücke ‚zum Nachdenken‘ von Cage sind „As Slow as Possible“ und 4’33“. Bei ersterem geht es darum, möglichst langsam zu spielen. 2001 startete eine Aufführung an der Orgel der Burchardi-Klosterkirche in Halberstadt (www.john-cage.halberstadt.de). Der nächste geplante Ton ist ein C-As-Akkord, der am 5. Juli angeschlagen wird – dauern soll das Ganze bis ins Jahr 2640.

Konzept-Musik

Auch das Klavierstück 4’33“ ist etwas ‚eintönig‘ – es besteht aus drei Sätzen „Stille“, wobei Satzbeginn und -ende jeweils durch das Auf- und Zuschlagen des Klavierdeckels angezeigt werden. Es geht unter anderem um die Erfahrung, dass es auch ohne Musik etwas zu hören gibt, zum Beispiel Publikumsgeräusche oder das Summen der Klimaanlagen. Eine lustige Idee, deren Potenzial aber schnell erschöpft ist? Keineswegs: Der Musikpädagoge Dieter Bührig hat neun Aufführungen des Stücks durch berühmte PianistInnen verglichen: Die Interpretationen reichen vom verkrampften Absitzen der 273 Sekunden (Christoph Eschenbach) bis zum schweigsamen Zigarrenrauchen über der Tastatur (Arthur Rubinstein). Interessant sind auch die Interaktionen zwischen den Interpreten, dem Publikum und dem 4’33“ umgebenden Konzertprogramm.

Obwohl es „Einspielungen“ solcher Stücke auf CD gibt – eigentlich gehört Konzept-Musik in den Konzertsaal -nährt sie sich aus der Unmittelbarkeit des Erlebnisses. Am vergangenen 15. März hatte das luxemburgische Publikum Gelegenheit, einer Aufführung des Klavierkonzerts durch das Ensemble Musikfabrik beizuwohnen. Zwar hatte die Werbung für das Konzert auf das Konterfei des langhaarigen Frank Zappa gesetzt, doch im Mittelpunkt des Programmhefts stand dessen Vorbild John Cage. Anarchie sei die Grundidee im künstlerischen Schaffen des Komponisten, hieß es im Text von Stefan Fricke. Seine Musik nehme eigentlich die Überwindung der jetzigen Gesellschaftsordnung vorweg, denn: „Ohne freien Willen sind individuelle Entscheidungen nicht zu treffen, und Cages Musik verlangt solche Bekundungen aus dem eigenen Zentrum heraus – zunächst mal von den Musikern, aber auch vom Publikum, das nicht vorgabegebunden hören und sehen soll, sondern all das wahrnehmen, was es umgibt.

So richtig befreit wirkte der Auftritt der Musikfabrik dann aber nicht. Brav befolgten die Interpreten Cages Angaben, hantierten mit Mundstücken, Dämpfern und anderen Utensilien und warfen gestresste Blicke zum Dirigenten. Der nämlich bestimmte das Tempo des Vortrags, eine Möglichkeit, die Cage vorgesehen hat. Der zum Chef beförderte Perkussionist – normalerweise spielt das basisdemokratische Ensemble ohne Dirigenten – ließ den Arm wie einen Uhrzeiger kreisen, mal langsam, mal schneller. Weil die Musiker die jeweilige Sequenz abschließen mussten bevor der Zeiger auf zwölf stand, sah man bei manchem Accelerando den Posaunisten hastig mit Mundstück und Verlängerungen hantieren.

Vielleicht war es das, was die zeitgleich auf der Bühne stattfindende Schachpartie zweier überzähliger Ensemble-Mitglieder ausdrücken sollte: Anders als Cages „Zufallsmusik“ entwickelt sich eine Schachpartie aus einer inneren Logik heraus. Auch ein klassisches Stück, in das der Komponist einen Sinn gelegt hat, oder Jazz-Improvisationen, bei denen die Musiker gemeinsam einen Sinn erfinden, machen mehr Spaß. Und selbstverwaltet ist man ja sowieso bei der Musikfabrik.

Nostalgie des Skandals

Lustiger ging es da schon bei der Uraufführung zu. Das „25-Year Retrospective Concert of the Music of John Cage“, als Tripel-CD verfügbar, dokumentiert die Wirkung des Werks auf das damalige Publikum. Bereits bei den ersten Gurgel- und Stöhnpassagen kann man einige Pfiffe hören. Später, als ein spritzendes Geräusch ertönt, begleitet von Schlägen auf ein nicht identifizierbares Instrument, kommt es zur ersten Lachsalve. Schließlich hört man Applaus: Ein Versuch, die Aufführung zu unterbrechen, schreibt der damals anwesende Musikproduzent George Avakian im Booklet. Er vergleicht die Aufführung mit dem Skandal um Stravinskys Premiere des „Sacre du printemps“ 1913. Der Aufruhr sei größer gewesen als seinerzeit in Paris, zitiert Avakian einen Zeitzeugen.

Es hat nicht verhindert, dass Cage, bei aller Provokation, zum Klassiker der Moderne geworden ist. Und dass das Publikum, wie in Luxemburg, den Aufführungen mit der gleichen Ehrfurcht begegnet wie der Matthäus-Passion von Bach.


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