FLÜCHTLINGE AN DER KANALKÜSTE: „Vielleicht heute Nacht, vielleicht morgen“

An der Kanalküste Belgiens und Frankreichs sammeln sich Hunderte von Flüchtlingen, die nach England wollen. Der größte Teil ihrer Odyssee liegt hinter ihnen – doch der letzte Schritt ist der schwerste.

Am LKW-Terminal in Oostende, vor der Auffahrt in die Fähre: Ein Polizist und ein Mitarbeiter des britischen Immigrationsdienstes untersuchen den Frachtraum des LKW mit einem CO2-Detektor. Verbrauchte Atemluft verrät die Anwesenheit eines Menschen.

„Now in the queues at immigration, in the border zone
We are your bastard children, ll coming home
And every day you try to build a higher wall
.“
New Model Army

Auch wenn der Europäische Rat in diesen Tagen vor allem die aktuelle
internationale Finanzkrise zum Thema hatte, so wurde auch der „Pakt für
Einwanderung und Asyl“ beschlossen. Dieser Pakt stellt eine der vier
Prioritäten der französischen Ratspräsidentschaft dar. Er soll als
Grundlage für eine „echte europäische Einwanderungspolitik“ bilden,
stößt aber bei den Flüchtlingshilfeorganisationen auf starke Ablehnung
(siehe woxx 974). Aus gegebenem Anlass veröffentlicht die woxx eine
Reportage über den europäischen Flüchtlingsalltag an der belgischen
Kanalküste.

Es ist ein guter Tag, um zum Friseur zu gehen. Fouad* humpelt die paar Meter raus in den Innenhof, wo Rachid* gerade die Schermaschine eingestöpselt und einen Holzstuhl in die Herbstsonne gerückt hat. Viel gibt es nicht zu tun, Fouad trägt die früh ergrauten Haare ziemlich kurz, doch immerhin bietet es etwas Abwechslung im täglichen Triathlon aus Duschen, Billardspielen und Herumsitzen. Wobei selbst das, gemessen an den Umständen, schon eine Menge ist. Denn die Obdachlosen- Anlaufstelle des staatlichen Wohlfahrtszentrums CAW ist neben einer Stiftung, die Essen an Sans Papiers verteilt, der einzige Platz in Oostende, an dem Menschen wie Fouad und Rachid willkommen sind. Rund 20 junge Männer aus Algerien und Marokko sitzen um die kargen Holztische. Stecken leise redend die Köpfe zusammen, die, die nicht am Ramadan teilnehmen, trinken Kaffee, andere warten darauf, dass jemand tröpfelnd in den Raum kommt, sich mit Papiertüchern abtrocknet und damit signalisiert, dass der nächste unter die einzige Dusche kann.

„Hier haben sie einen freien Ort“, sagt Tine Wyns, die Leiterin des Zentrums. „Auch die Polizei kommt hier nicht hin. Das ist eine Absprache.“ Die Polizei kam oft in den letzten Monaten, um die Glückssucher auf dem Weg nach England aufzugabeln: im Hafen, wo die LKW auf die Fähren rollen, am Bahnhof unmittelbar daneben, wo die Flüchtlinge über Zäune kletterten oder über die Schienen liefen, um in abgestellten Zügen zu schlafen. Nicht zuletzt in den Einkaufszeilen der ehemals mondänen „Königin der Badestädte“, wo sich die Touristen bedroht fühlten. Die erschwerten Bedingungen in den Nachbarstaaten machten Oostende in der ersten Jahreshälfte zum Brennpunkt auf der Karte der Transmigration: während die französische Polizei brutal gegen die illegalen Flüchtlinge vorgeht und die niederländische Praxis beinhaltet, der Abschreckung wegen jeden einzusperren, der ohne Aufenthaltsdokumente erwischt wird, stellt Belgien nicht mehr als einen Befehl aus, innerhalb von fünf Tagen das Land zu verlassen. „Im Frühjahr hatten wir manchmal bis zu 80 Flüchtlinge in der Anlaufstelle? erzählt Tine Wyns. „Das war mehr, als wir versorgen konnten. Es gab zu wenig Nahrungsmittel, die medizinische Lage war katastrophal. Viele kamen mit Verletzungen, die sie sich bei den Versuchen, in einen LKW zu gelangen, zugezogen hatten, doch in den Krankenhäusern gibt es nur Notversorgung. So baten wir das Rote Kreuz und Ärzte ohne Grenzen um Hilfe, um ein Auffanglager zu errichten.“

Dieses Wort jedoch klang kurz vor der Hauptsaison in den Ohren der Stadtverwaltung gar nicht gut, zumal in belgischen Zeitungen der Name Oostende immer häufiger in Verbindung mit „Illegalen“ auftauchte. Nachdem die Sozialarbeiter sich mit dem Problem an die Presse gewandt hatten, wurde Tine Wyns und ihren Mitarbeitern nahe gelegt, vor Kontakten mit Medienvertretern künftig den Bürgermeister zu informieren. „Sie befürchteten ein Image-Problem“, bringt Dirk Soenen, der Koordinator der Anlaufstelle, es auf den Punkt. „Darum verweigerte der Bürgermeister die Zustimmung.“ Stattdessen wehte bald ein anderer Wind durch die Stadt. Unter dem Codenamen „Mistral“ bündelten Polizei und Schiffahrtspolizei, Hafendienst, Ausländerbehörde sowie der britische „Immigration Service“ ihre Kräfte, durchkämmten regelmäßig Stadt und Hafen und verhafteten fast 200 Transitmigranten. Ende August kam die Immigrationsministerin persönlich an die Küste und zog hochzufrieden Bilanz. Auch die örtliche Schiffahrtspolizei erklärte das Problem für gelöst. „Dabei ist klar, dass sie die Menschen nur für den Sommer aus den Straßen haben wollten. Der Stadt ging es nicht um eine Lösung, sondern um Abschreckung“, so Dirk Soenen.

„Essen haben wir kaum hier, duschen können wir nicht, ein schreckliches Leben.“

Ein Blick auf Fouads hochgekrempelte Hose gibt ihm recht. Die Unterschenkel sind dick bandagiert, vor zwei Wochen fiel er aus zehn Metern Höhe von einem Containerturm und brach sich die Knöchel, als die Polizei seinen letzten Versuch, auf einen LKW zu kommen, verhinderte. Doch Fouad ist unbeirrt. „Jede Nacht probieren es zwei oder drei von uns. Auch ich werde es wieder tun, sobald ich besser laufen kann.“ Bis dahin wohnt er mit den anderen im Unterholz des „Wäldchens“, wie der große Park unten am Hafen im Volksmund genannt wird. Die Verstecke, die sich die Migranten dort eingerichtet haben, sind von den Wegen aus nicht zu sehen. Tagsüber verraten nur das angesammelte weiche Geäst auf dem Boden und ein paar Plastikschalen und Chipstüten die Dramen, die sich hier abspielen. Manche Schlafplätze sind mit einem roten Bändchen gekennzeichnet, das von einem Zweig herunterhängt, auch einzelne Bäume sind mit roter Farbe markiert. Der Sommer war kalt und nass an der belgischen Küste. Fouad hat die letzten zwei Monate davon miterlebt. „Das Leben ist schlecht hier, richtig schlecht.“

Der einzige Ausweg ist ein Nadelöhr. Nur eine Straße trennt das „Wäldchen“ vom Parcours aus Stacheldraht und Infrarotzäunen. Dahinter liegen Bahnhof, Hafen und vor allem das LKW- Terminal. Wer es bis auf die Ladefläche eines Trucks geschafft hat, muss erst die Scanner-Station unbeachtet passieren, an der die Ladung kontrolliert wird. Dahinter liegt die Auffahrt auf die Fähre. Hundert Meter mehrfach gerollter Stacheldraht sollen verhindern, dass blinde Passagiere von der angrenzenden Brücke auf einen Laster aufspringen. Dementsprechend vorsichtig sind die Fahrer. Gregorz, ein junger Pole, schiebt sich hinter der Kabine seines Trucks hoch und lässt die Augen von oben über die Plane wandern. Er fährt zum ersten Mal von Oostende nach England und hat so einige Geschichten über die Route gehört. 2.000 Pfund Strafe, umgerechnet also etwa 2.500 Euro, würde ihn ein Flüchtling an Bord kosten, „plus ein Gefängnisaufenthalt wegen Menschenschmuggel“. Ein letzter Blick, dann setzt er sich in Bewegung, nur um gleich wieder angehalten zu werden. Zwei Polizisten und ein Mitarbeiter des britischen Immigrationsdiensts unterziehen die Fracht einer zweiten Inspektion. Mit einem CO2- Detektor gehen sie langsam um den LKW und warten auf den Ausschlag, der die Anwesenheit eines Menschen verrät. Ab Oktober sollen zusätzlich Spürhunde eingesetzt werden.

Die nächste Hürde zeichnet sich dahinter bereits ab: Um die Immigrationszahlen drastisch zu senken, führt Großbritannien im November eine Ausweispflicht für Nicht-EU-Bürger ein. Dazu unterliegen sie einem streng am Arbeitsmarkt orientierten Punktesystem, über das Aufenthaltstitel vergeben werden. Ergun* jedoch hat davon noch nichts gehört. Für ihn ist England noch immer das Land der vielen Jobs und wenigen Kontrollen. Seit er 15 ist, träumt er von einem Leben dort. Damals wohnte er im kurdischen Nord-Irak. Heute ist er 23 und haust keine 50 Kilometer vor Dover in einem erbärmlichen Camp im windigen Ödland bei Loon Plage. Fünf Verschläge, notdürftigst aus Müll, Brettern und Planen zusammengezimmert, ducken sich unter die spärlichen Bäume. Darüber weht, rot, weiß und grün, die kurdische Fahne. Die gut 50 Bewohner des Camps kommen aus Kirkuk, Mossul oder anderen Städten im Nordirak.

„Ich denke, wir sollten hier weg sein, bevor es Winter wird.“

Ergun zeigt auf eine der Baracken, die vielleicht zehn Quadratmeter misst. „Darin schlafen wir zu siebt oder zu acht. So gut das eben geht. Essen haben wir kaum hier, duschen können wir nicht, ein schreckliches Leben.“ Ergun lässt die müden Augen unter seiner Kapuze über das Terrain wandern. Flache Büsche ziehen sich links und rechts der stillgelegten Güterzuglinie zum Hafen von Dunkerque. Das Containerterminal ist von hier aus zu sehen, am Horizont ragen Kräne in den wolkigen Himmel. Die riesige weiße Fähre ist eine zynische Verheißung, die sich kaum erfüllen kann.

In den knapp drei Wochen, die Ergun im Camp ist, hat er schon zehn oder zwölf Versuche gestartet, in einem LKW auf ein Schiff zu gelangen. „Alle hier probieren es. Wir haben Ausweisungsbefehle von der Polizei. Wenn sie uns erwischen, bringen sie uns nach Dunkerque. Dann kommen wir hierhin zurück. Wann wir es wieder probieren? Vielleicht heute Nacht, vielleicht morgen Nacht. Niemand weiß es.“ Was sie wissen, ist nur dies: alle haben zu viel auf sich genommen, um umzukehren. Odysseen auf LKW, Zügen und Flugzeugen, mit falschen Papieren oder versteckt auf Ladeflächen, von Irak über die Türkei und Griechenland nach Italien, und weiter, immer Richtung England. „Bei mir ging es schnell. Ich habe nur vier Tage hierhin gebraucht, denn ich habe einen guten Preis gezahlt.“ 12.000 Pfund hat Ergun das One-Way-Ticket an die Tür zu einem besseren Leben gekostet. Doch ab Frankreich ist er auf sich allein gestellt: die Mission der Schleuser endet an der Kanalküste. „Hier helfen sie uns nicht mehr weiter“.

Der Wind trägt den Rauch in alle Richtungen, unruhig flackert das Feuer vor sich hin. Mit dem Deckel einer Konservendose schneidet Memet* ein paar Kartoffeln in Scheiben und brät sie in einer Pfanne, die inzwischen schwarz ist. Ergun schnappt sich zwei Plastikkanister und macht sich auf den Weg zur Wasserstelle, einem Hydranten an der Zufahrtsstraße zum Hafen. LKW donnern vorbei, niemand nimmt die Gruppe schwarzhaariger Männer wahr, die hier Trinkwasser holen, sich waschen oder einfach die Zeit totschlagen. Ein Anblick, der zur Gewohnheit wurde in den fünf Jahren, die das Lager hier bereits besteht. Zwei Jugendliche mit viel zu großen Schuhen raufen zum Zeitvertreib, ein Bewohner seift sich unter dem kalten Strahl ein, in der Ferne tauchen immer wieder Gestalten auf, die in Kapuzen gehüllt langsam über die Bahngeleise ziehen. Ergun streicht sich über die stoppeligen Wangen: „Ich denke, wir sollten hier weg sein, bevor es Winter wird.“

* Namen von der Redaktion geändert.
Tobias Müller arbeitet als freier Journalist und lebt in Amsterdam.


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