BECKERICH-BERLIN: Reise nach Realökotopia

Die Gemeinde Beckerich hat den Eurosolarpreis erhalten. Zur Zeremonie in Berlin hat die woxx die kommunale Delegation begleitet.

Der Intercity-Express braust mit 250 Sachen in Richtung Berlin. Im Mittelgang steht Camille Gira, Bürgermeister von Beckerich, und erklärt den weiteren Tagesverlauf. „Ich hab‘ früher auch mal Butterfahrten organisiert“, witzelt er. Die 20-köpfige Reisegesellschaft grinst, die Stimmung ist gut. Man ist unterwegs, um den europäischen Solarpreis in der Kategorie Städte und Gemeinden entgegenzunehmen. „Wir müssen früh da sein, eigentlich sind nur vier Personen pro Delegation vorgesehen.“ Gira verteilt die Fahrkarten und die Werbebroschüren seiner Gemeinde. „Bevor die Butterfahrt zu Ende ist, werdet ihr bestimmt was kaufen, doch, doch.“ Die mitfahrenden JournalistInnen studieren die Broschüren, während Gemeindepolitiker und -personal sich über Lokalsport und die jüngsten Umweltprojekte unterhalten. Man freut sich auf ein gemütliches Beisammensein, auf den Austausch von großen und kleinen Ideen – und auf den Preis.

Mit dabei ist auch Henri Kox, wie Gira grüner Abgeordneter und Präsident von Eurosolar Luxemburg. Diese nationale Sektion wurde vor sechs Jahren ins Leben gerufen und setzt sich nicht nur für Fotovoltaik ein, sondern für alle erneuerbaren Energien und das Energiesparen. „In den Neunzigerjahren haben wir in der Handwerkerschule Projekte wie das Solarmobil vorangetrieben“, erzählt Kox. Um das Team aus Lehrern und Schülern zusammenzuhalten, habe man eine außerschulische Struktur gebraucht.

Die europäischen Solarpreise werden jedes Jahr an besonders innovative und beispielhafte Initiativen verliehen.

Eurosolar wurde 1988 vom Energieexperten und späteren alternativen Nobelpreisträger Hermann Scheer gegründet und existiert mittlerweile in 13 Ländern. Dass Scheer SPD-Politiker ist, das sei kein Problem, versichert Henri Kox: „Es ist nicht die Parteikarte, die zählt. Scheer hat unserer Bewegung so viele Impulse gegeben, über seine Bücher und über das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz.“ Und die europäischen Solarpreise: alljährlich werden sie an besonders innovative und beispielhafte Initiativen in diversen Bereichen der alternativen Energien verliehen. Daneben verleihen Sektionen wie die luxemburgische auch nationale Preise.

Nach der Ankunft und der Einbuchung im Hotel macht sich die Delegation auf den Weg zum Gebäude der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KFW). Zu früh vor Ort, flüchtet man vor dem Schneeregen in eine Glühweinbude. Im Berliner Kontinentalklima spielt der nachwachsende Rohstoff Alkohol eine wichtige Rolle bei der Wärmeerzeugung – besonders während der Weihnachtsmarkt-Zeit. Nach einem zusätzlichen Gläschen Schaumwein in der Empfangshalle der KFW werden die Gespräche vertraulicher. „Ich habe mal im Winter das Glykol vergessen“, gesteht einer der ReiseteilnehmerInnen ein, als es um die Lebensdauer von Sonnenkollektoren geht. Und beschreibt, wie toll eine kaputte Thermosolaranlage mit ihren verbogenen Rohren aussieht. Auch die anderen Delegationen trudeln langsam ein. Mit den NordfranzösInnen von „Virage-énergie“ fachsimpelt man über Erfahrungen mit kommunalen Strukturen und Bürgerbeteiligung.

Achtzehn Uhr. Die Stühle im Festsaal der KFW sind bis auf den letzten Platz besetzt. Unter dem Glasdach haben sich mehrere hundert Personen versammelt, vorne stehen die insgesamt zwölf faustgroßen Weltkugeln aus Glas, die für die PreisträgerInnen bestimmt sind. Hermann Scheer ergreift das Wort. Ausgehend von der aktuellen Finanzkrise und der andauernden Ölkrise stellt er fest, die einzige Chance sei ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien. „Das ist allen klar.“ Vor 20 Jahren, bei der Gründung von Eurosolar, sei das anders gewesen. „Jetzt sagt das Management in den Energiekonzernen: Verstanden, die Vorreiter hatten recht – Zeit, die Entwicklung der erneuerbaren Energien in professionelle Hände zu legen.“ Doch gerade diese Akzeptanz, so Scheer, sei kein Grund zur Freude, sondern zum Misstrauen. Die Politik dürfe sich nicht auf die Manager und Technokraten verlassen.

Scheer ist ein guter Redner. Nach dieser überraschenden Wendung setzt er das Engagement von Eurosolar in eine historische Perspektive: „Erst wurden wir lächerlich gemacht, dann erbittert bekämpft. Heute behaupten alle, schon immer für erneuerbare Energien gewesen zu sein.“ Damit versuche man, die Vorreiter, die wirklich an die Idee glauben, zu verdrängen. Der Solarpreis dagegen dokumentiere, wer die wirklichen Pioniere seien. „Nur mikroökonomisch zu räsonieren, führt in die Falle“, so Scheer, und nennt die Potenzialstudien zu erneuerbaren Energien als Beispiel. Nachdem man die Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen geprüft habe, bleibe wenig vom Klimaschutz vor Ort übrig. „Dabei ist das wichtigste Potenzial das der Menschen, die sich nicht entmutigen lassen und es trotzdem versuchen.“

„Die Beckericher Leistung besteht nicht an erster Stelle darin, so und so viel Prozent Energie aus erneuerbaren Quellen zu beziehen.“ (Henri Kox)

Gerade auf dieses Potenzial hat die Gemeinde Beckerich gesetzt, und deshalb darf Camille Gira als zweiter Preisträger seine Weltkugel in Empfang nehmen. „Der pädagogische Aspekt hat uns überzeugt“, erläutert später Henri Kox, der Mitglied der Eurosolar-Jury war. Frühere luxemburgische Kandidaturen seien gewissermaßen nur Stand der Technik gewesen. „Die Beckericher Leistung besteht nicht an erster Stelle darin, so und so viel Prozent Energie aus erneuerbaren Quellen zu beziehen.“ Kox verweist darauf, dass die Ex-aequo-Preisträgerin, die Stadtgemeinde Bruck aus Österreich, sogar energieautark ist. Sie habe aber kein so überzeugendes Gesamtkonzept vorgelegt.

In der Tat: Was Beckerich im Jahr 2008 darstellt, ist das Ergebnis eines langjährigen Prozesses. 1990 verabschiedete der Gemeinderat ein „Programm fir eng konsequent ekologesch Gemengepolitik“. Spätestens seit der Verleihung des Europäischen Dorferneuerungspreises sechs Jahre später wurde Beckerich zur Vorzeigegemeinde. In den vergangenen zehn Jahren stand die Energieproblematik im Vordergrund: öffentliche Gebäude in Niedrigenergiebauweise, Aufbau eines Wärmenetzes, Förderung von Solaranlagen und Sensibilisierung der Haushalte. Kommunikation wird nicht nur innerhalb der Gemeindegrenzen groß geschrieben. Mit Initiativen wie den Energietouren – Führungen durch die Gemeinden Beckerich, Préizerdaul und Redingen – lockt Beckerich sowohl TouristInnen und Neugierige als auch GemeindepolitikerInnen und EnergieexpertInnen. Bis hin zum jüngsten PR-Erfolg, dem Gewinn des Eurosolarpreises.

Dennoch: Beim Betreten des Podiums wird der Luxemburger Bürgermeister dann von Lachsalven empfangen. Das liegt aber nicht an ihm, sondern am Fernsehmoderator und Theologen Jürgen Fliege, der durch den Abend führen soll. Sichtlich unvorbereitet faselt der TV-Star etwas vom „Preisträger aus dem belgischen, äh, flämischen, äh, niederländischen …“ und kündigt den Herrn „Camillo Gira“ an. Beim Smalltalk hat das Beckericher Partnerprojekt in Indien es dem Theologen angetan, und Gira nutzt die Gelegenheit, um den Spruch vom globalen Denken und Handeln zu platzieren.

Weil zwölf Preise verliehen werden und für jeden Preisträger ein kleines Präsentationsvideo gezeigt wird, bleibt wenig Zeit, um auf die einzelnen Projekte einzugehen. Die salbungsvollen Tiraden des Moderators und die Übersetzungsprobleme ziehen den Abend in die Länge – besonders für die Gäste, die des Deutschen nicht mächtig sind und keine Chance haben, die Insiderwitze und Anspielungen nachzuvollziehen.

Eurosolar ist stark, vielleicht zu stark, von der Persönlichkeit seines Gründers und dessen Herkunftsland geprägt. Das ist schade, denn die ausgezeichneten Initiativen kommen mittlerweile aus ganz Europa. So spielt der Journalist Ilhami Arslan in der Türkei in Sachen Umweltjournalismus eine bemerkenswerte Pionierrolle. Die Fotovoltaikanlage auf der „Aula Paolo VI.“ verdankt ihre Hervorhebung nicht nur der Tatsache, dass sie vom Vatikan errichtet wurde, sondern auch der vorbildlichen denkmalschützerischen Herangehensweise. Bahnbrechend für das vom tout-nucléaire geprägte Frankreich ist die NGO
„Virage-énergie“, die eine politische Botschaft mit konkreten Vorschlägen für die Region Pas-de-Calais verbindet.

„Anfangs war es nicht einfach, das Prinzip Klimaschutz in einer konservativen Landgemeinde durchzusetzen.“
(Camille Gira)

Interessant auch der Appell des dänischen Professors Frede
Hvelplund, der für sein langjähriges persönliches Engagement ausgezeichnet wird. Er setzt andere Akzente als Helmut Scheer, der die Wichtigkeit der Impulse „von unten“ betont: Hvelplund möchte verhindern, dass auf höchster Ebene die falschen Zeichen gesetzt werden. Es sei wichtig, dass die Staaten weiterhin eine gezielte
Energiepolitik betreiben und nicht dem CO2-Handel die Regelung des Klimaproblems überlassen, wie dies bereits zu beobachten sei.

Nach der anregenden, aber anstrengenden Eurosolar-Zeremonie kommt die „menschliche Dimension“ wieder zum Zug. Das gemeinsame Abendessen ist die Gelegenheit, auf politische Fragen zurückzukommen, die von den Rednern aufgeworfen wurden, oder sich einfach nur über die lokalen Projekte auszutauschen. Dass sechs Gemeinderäte nach Berlin gereist sind, zeige, dass der ökologische Weg Konsens sei, so Camille Gira später. „Anfangs war es nicht einfach, das Prinzip Klimaschutz in einer konservativen Landgemeinde durchzusetzen.“ Alles in allem habe das aber zu weniger Konflikten geführt als die Einrichtung von Kinderbetreuungsstrukturen vor zehn Jahren. Doch Gira redet lieber über die Zukunft: Wie die Gemeinde nach Wegen sucht, auch sozial schwachen Haushalten eine ökologische Lebensweise zu ermöglichen. Für diese Dinge brauche es eine Zusammenwirkung von Theorie und Praxis, von Politikern und Technikern. Auch Henri Kox ist vom Beckericher Teamgeist beeindruckt. „Das ist mehr als nur zwei, drei Aktivisten.
Camille Gira hat es geschafft, dem Projekt eine Eigendynamik zu geben.“ Die kleine gläserne Weltkugel, die dort demnächst in einer Vitrine stehen wird, dürfte das noch verstärken.

Liste der Preisträger und Präsentationsvideos: www.eurosolar.de

Gemeinde Beckerich: www.beckerich.lu


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