BELGIEN: Letzte Ausfahrt Konföderation

Die belgische Parlamentswahl am 13. Juni ist richtungweisend für die Zukunft des Landes. Sind die auseinanderdriftenden Regionen noch kompromissfähig?

Auf dem Weg nach oben: Der separatistischen Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) und ihrem Vorsitzenden Bart de Wever (hier auf einem Parteikongress 2008) wird für Flandern eine deutliche Stimmenmehrheit prognostiziert.

L`union fait la force: wer wissen will, wie es 180 Jahre nach seiner Gründung um den belgischen Staat bestellt ist, beginnt am Besten bei seinem Wappenspruch. Dieser hat im südlichen Landesteil in diesem Frühjahr als Wahlkampfslogan des Centre Démocrate Humaniste (cdH) Konjunktur. „Un nouveau pacte pour les Belges“, lautet der Untertitel, und liest sich als „gemeinsames Projekt in einem reformierten Belgien“. An einem neuen Vertrag ist man auch nördlich der Sprachgrenze interessiert. Die dortige Version des Mottos, „Eendracht maakt macht“, taugt allerdings nicht als Parole, denn Reminiszenzen an den unitären Staat von einst waren in Flandern noch nie in Mode. Vielmehr soll der Urnengang vom 13. Juni die Weichen endgültig in Richtung einer Konföderation möglichst souveräner Teilstaaten stellen.

Es ist dies eins von zahlreichen Anzeichen dafür, dass Belgien am Scheideweg steht. Wichtiger als Parteien und ihr Personal ist daher bei den Wahlen die Frage: gelingt dem vom chronischen Sprachkonflikt geprägten Land eine Rückkehr zur Kultur des Dialogs? Findet sich noch eine politische Mehrheit für den sprichwörtlichen belgischen Kompromiss? Oder setzt sich der Trend fort, der im politischen Dauerpatt der vergangenen drei Jahre den Notfall zum Normalzustand machte?

Mit dem erwähnten Trend wurde die Sprachzugehörigkeit vollends als politische Kategorie etabliert, bisweilen wirkt diese Zugehörigkeit verbindender als parteipolitische Inhalte und Ideen. Das Resultat war eine Dauer-Krise mit den immer gleichen Themen: Die Kluft zwischen Flandern und Wallonien, die Diskussion um „Staatsreform“, das umstrittene zukünftige Verhältnis zwischen föderaler und regionalen Regierungen, sowie der Streit um „BHV?, den gleichsam heiklen zweisprachigen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde.

Flämische Parteien propagieren den anstehenden Urnengang als Neuanfang nach einer langen Reihe gescheiterter Verhandlungen und Deadlines ohne Ergebnis. „Wir haben jetzt vier Jahre Zeit, mutige Beschlüsse zu treffen und bis zu den nächsten Wahlen verdauen zu lassen?, so der bisherige Vizepremier Guy Vanhengel gegenüber der Zeitung „De Morgen“. Der Liberale, wahrlich nicht als Hardliner bekannt, will nun „Menschen an den Tisch bekommen, die nicht durch Extreme getrieben sind.“ Es dürfte voll werden an der Verhandlungstafel, gehört doch ein Bekenntnis zum Dialog zur Standardrhetorik in der belgischen Politik. Zuletzt wurde diese bis unmittelbar vor dem Fall der Regierung gepflegt. In einem Klima, das zunehmend von identitärer Sprachgruppen-Politik beherrscht wird, gehen damit jedoch oft weit reichende Forderungen einher.

Auch sonst haben moderate Positionen in Flandern nicht gerade Hochkonjunktur. Knapp zehn Jahre nach ihrer Gründung aus der Konkursmasse der nationalistischen Volksunie gilt die separatistische Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) als sichere Wahlsiegerin. Trat sie vor einigen Jahren noch als Splitterpartei in einem Kartell mit den Christdemokraten an, werden ihr nun 26 Prozent vorausgesagt. Bereits bei den Regionalwahlen 2009 sprang sie auf 13 Prozent. Eine Verdopplung dieses Ergebnisses wiese die N-VA endgültig als Profiteur der dreijährigen Regierungskrise aus. Von den Christdemokraten übernähme sie damit nicht nur die Rolle der stärksten Partei, sondern würde auch Hoffnungsträgerin des nationalistischen Elektorats in Flandern. Selbstverständlich verschreibt sich auch die N-VA dem Dialog – unter gewissen Vorbedingungen, versteht sich.

Um eine Stärkung der Regionen auf Kosten der föderalen Regierung wird man langfristig nicht herum kommen.

Im frankophonen Landesteil ist der „unwiderstehliche Aufstieg der N-VA? (Le Soir) unter ihrem Vorsitzenden Bart de Wever das dominierende Thema auf der Zielgeraden des Wahlkampfes. Ein Phänomen, das Bestürzung hervorruft, zumal die Partei nicht durch einen effektiven „cordon sanitaire“ aus der Regierung gehalten wird wie der militant-sezessionistische Vlaams Belang. Der prognostizierte Ausgang der Wahl schürt in der Wallonie Unsicherheit. „Was tun mit der N-VA?“, sinnierte unlängst ein Kommentator von „Le Soir“. In einem Forum auf der Website der Zeitung wird diskutiert, ob man die Partei „verteufeln“ oder die Diskussion mit ihr angehen solle.

Hochkonjunktur hat in frankophonen Medien daher die Statistik. Man deutet Ergebnisse flämischer Meinungsforscher, als könnten die Zahlen Auskunft darüber geben, wie weit die Parteien im Norden bei der Verlagerung von Kompetenzen von der föderalen auf die regionale Ebene gehen wollen. Zuletzt gaben 15 Prozent der Befragten an, das Ende des belgischen Staates zu erwarten. Soll man sich vor diesen fürchten – oder den Fokus auf die 85 Prozent richten, die demnach an eine Zukunft des Landes glauben? „Ein Gespenst geht um in Belgien“, fasste der Publizist Dirk Rochtus diese Spekulationen unlängst in einem Kommentar in „De Standaard“ zusammen. „Das Gespenst der flämischen Staatsreform“. Das Wahlprogramm der N-VA sieht einerseits in einer Konföderation die Zukunft Belgiens. Laut dem Fraktionsvorsitzenden Jan Jambon jedoch ist dies „ein gigantischer Schritt? in Richtung Unabhängigkeit.

Um eine wie auch immer geartete Stärkung der Regionen – Wallonien, Flandern und Brüssel – auf Kosten der föderalen Regierung wird man langfristig nicht herum kommen; das ist eine der Konsequenzen, die die frankophonen Parteien aus der dreijährigen Krise gezogen haben. Nach wie vor aber unterscheiden sich deren Konzepte essentiell von jenen der flämischen Parteien. Der cdH erklärt sich bereit, über eine „faire Staatsreform“ zu verhandeln. Auf dem Programmkongress Ende Mai in Liège spezifizierte Joëlle Milquet dies wie folgt: „Keine Angst haben, ?Nein‘ zu sagen zur Spaltung des Landes, zum leeren Konföderalismus gegen die Rechte und Interessen der Frankophonen, und ?Ja‘ zu einer wahren Staatsreform, ausgeglichen und verhandelt, die unserem Land eine Zukunft gibt, ohne es seiner Substanz zu berauben.“

Milquet machte jüngst mit einer weiteren Äußerung von sich reden: sie nannte die 1963 festgelegte Grenze zwischen beiden Sprachgruppen einen „historischen Irrtum“. Wie heikel dieses Thema in Flandern ist, zeigt sich regelmäßig bei der Diskussion um den zweisprachigen Hauptstadt-Wahlkreis, worüber im April die Regierung fiel. Manche Kommentatoren sprechen inzwischen von „Bosnien-Halle-Vilvoorde?: die flämischen Parteien wollen „BHV“ spalten, damit Bewohner der zu Flandern gehörigen Brüsseler Peripherie nicht mehr frankophone Parteien wählen können. Die Gegenforderung nach der Ausweitung des Brüsseler Wahlkreises gilt in Flandern wiederum als Angriff auf die territoriale Unversehrtheit des Sprachgebiets. Milquets Aussage ist nicht allein eine Provokation: Sie enthält auch eine fundamentale Kritik an der Umwandlung Belgiens in die heutige Föderation, an deren Anfang just die Einteilung in feste Sprachgebiete stand, und deren unbekanntes Ende den Frankophonen Sorgen macht.

Weniger ausgeprägt ist das frankophone Profil der Parti Socialiste. Sie setzt unter dem Titel „Ein stabiles Land, nachhaltige Arbeitsstellen“ vor allem auf Solidarität und Beschäftigung. Die PS bekennt sich zu einer Staatsreform und zu mehr Kompetenzen für die Regionen, sieht jedoch die Zuständigkeit für „die großen Domänen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der sozialen Sicherheit“ eindeutig bei der Föderalregierung. Auch die aufstrebende Ökopartei Ecolo, die sich voller Überzeugung „Les Verts Belges“ nennt, spricht einerseits von einem neuen „institutionellen Gleichgewicht“. Darunter aber versteht sie vor allem eins: „das föderale Belgien modernisieren“. Von einer Konföderation ist in der Partei Jean-Michel Javaux` mit keinem Wort die Rede. Didier Reynders, Vorsitzender des liberalen Mouvement Réformateur (MR), lehnt ein solches Modell zumindest dann ab, wenn dies als erster Schritt zur Spaltung des Landes gilt.

Neben der dringenden Frage nach der Zukunft des Staates fällt ein weiterer Punkt ins Auge, in dem sich beide Landesteile fundamental unterscheiden: nach einer Umfrage der Tageszeitung „La Libre Belgique“ erreichen die drei linken Parteien PS, cdH und Ecolo in Wallonien zusammen eine Zweidrittelmehrheit. Der liberale MR, der vor drei Jahren von den Skandalen der PS profitierte, bricht dagegen ein. Anders sieht die Lage in Flandern aus: Dort liegt gemäß dem Meinungsforschungsinstitut TNS Dimarso eine rechtsbürgerliche Koalition aus N-VA, Christdemokraten und Liberalen knapp unter der Zweidrittelmarke. Rund 40 Prozent der Stimmen entfallen auf die separatistischen Parteien N-VA, Vlaams Belang und Lijst Dedecker.

Dazu kommt ein allgemeiner Trend: Ohne pro-flämische Agenda und konföderalen Sexappeal gewinnt man im Norden keine Wahl. Mit ihm, und das ist die Malaise Belgiens im Jahr 2010, gestalten sich die folgenden Verhandlungen mit dem Rest des Landes entsprechend schwer. Dass selbst die der Sezession unverdächtige Partei Groen! sich inzwischen um ein solches Profil bemüht, zeigt, wie weit dieser Konsens reicht.

Während der Dauerkrise der letzten Jahre kursierte in Belgien ein Schreckensszenario: Demnach gelänge die Lösung der dringendsten Probleme nicht, bevor man am ersten Juli die EU- Ratspräsidentschaft antritt. Inzwischen ist es wahrscheinlich, dass das EU- Gastgeberland den größten Teil der prestigeträchtigen Aufgabe ohne demokratisch legitimierte Regierung bewältigen muss. Ironisch mutet bei dieser Konstellation an, dass just die EU-Hauptstadt als Symbol suprastaatlicher Zusammenarbeit Schauplatz eines erbitterten Konflikts der Sprachgruppen ist. Die N-VA indes dürfte im kommenden halben Jahr einen Vorgeschmack auf die Zukunft sehen, in der sich Belgien zwischen Regionalregierungen und EU einfach auflöst.

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien.


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