FINNLANDS SCHULSYSTEM: Traumland der PISA-Pilger

PISA-Sieger Finnland bekommt zurzeit viel Aufmerksamkeit. Systemvergleiche erweisen sich allerdings als schwierig.

Finnland ist in. Seitdem das Land im hohen Norden den Spitzenplatz beim PISA-Test belegt hat, steht es vor allem bei den europäischen Verlierern von PISA – Deutschland und Luxemburg – hoch im Kurs. Ob Ministerin, MinisterialbeamtInnen oder GewerkschafterInnen – alle kehrten sie beeindruckt bis begeistert von ihren Pilgerfahrten nach Finnland zurück. Allerdings mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen im Gepäck. Ministerin Anne Brasseur lobte den hohen Stellenwert, den das Lesen in Finnland genießt und interpretiert dies als Bestätigung ihres „Back-to-Basics“-Ansatzes. Das sehen die Gewerkschaften freilich anders. Sie betonen das finnische Gesamtschulsystem, die Freiheit, die LehrerInnen dort bei der Gestaltung der Lehrpläne genießen, und die universitäre Ausbildung für alle LehrerInnen (siehe woxx Nr. 663).

Beim Kampf um die „richtigen“ politischen Maßnahmen wird der Blick auf das finnische Schulwesen aber oft – bewusst oder unbewusst – verengt.

Die Begründung, die Ministerin Brasseur beispielsweise für ihr Nein gegenüber Gesamtschulen dem Télécran (Nr. 40) gab, die Schulen würden zu groß werden, zeugt von sachlicher Unkenntnis. Nur rund drei Prozent der finnischen Gesamtschulen haben mehr als 500 SchülerInnen. Gesamtschule in Finnland bedeutet eben nicht das Zusammenlegen verschiedener Schulzweige zu Lernfabriken wie etwa in Deutschland, sondern finnische SchülerInnen zwischen sieben und 16 Jahren gehen alle in die einheitliche Gesamtschule. Egal, ob mit Lernschwierigkeiten oder ohne. Gleiche Bildungschancen für alle gilt seit den 60ern als oberstes Ziel der finnischen Bildungspolitik – und ist keine leere Worthülse.

„Bei uns ist Teamarbeit systembedingt“, erklärt Rainer Domisch stolz. Der Mitarbeiter im Zentralamt für Unterrichtswesen in Helsinki zählt auf, wer an finnischen Schulen neben der Schulleitung und den gewöhnlichen LehrerInnen noch zum Schulpersonal gehört: Eine Schulschwester (für die gesundheitliche Betreuung), eineN SozialpädagogIn (für Klassenkonflikte, Schwänzen etc.), eineN PsychologIn, AssistenzlehrerInnen auf Stundenbasis sowie eine Speziallehrkraft, die sich um die Lernschwachen kümmert. „Unsere Lehrer können sich also voll auf ihren Unterricht konzentrieren“, sagt Domisch. Zudem gebe es Spezialkonferenzen, an der alle Mitglieder des Kollegiums teilnehmen. Kinder mit erheblichen Lernschwierigkeiten können – dank der großen Autonomie, den Schulen bei der Lehrplangestaltung haben – einen maßgeschneiderten Stundenplan erhalten: In den Fächern, wo sie gut mitkommen, nehmen sie am normalen Unterricht teil, alles andere wird in Extra-Lerngruppen „nachgelernt“ – ohne Stigmatisierung und bis zur 7. Klasse auch ohne Noten.

„Ein Kind in Finnland lernt ohne Angst“, sagt Thelma von Freymann, emeritierte finnische Professorin für Erziehungswissenschaften und allgemeine Didaktik an der Universität Hildesheim. Die Kennerin des finnischen Schulsystems sieht in dem „Lernen ohne Blamieren“ einen wesentlichen Grund für die vergleichsweise friedliche und harmonische Atmosphäre. Die positive Bestärkung stehe immer im Vordergrund. „Wenn ein Kind sich nicht meldet, wird es auch nicht dran genommen. Niemand soll sich durch Nicht-Wissen bloßgestellt fühlen.“

Bildung ohne Beamte?

Von Freymann weist auf einen weiteren Aspekt der Schulautonomie hin, der vor allem von Gewerkschaften gerne ausgeblendet wird: die Personalpolitik. Neben Lehrkräften auf „life-long“-Basis gibt es in Finnland viele VertragslehrerInnen. Mit diesen, meist jungen Lehrkräften schließt die zuständige Schulleitung Jahresverträge ab, mit der Folge, dass etliche von ihnen am Ende des Schuljahres arbeitslos sind. Ob die LehrerInnen wieder eingestellt werden, hängt von der Finanzlage der Kommunen ab. Eine rechtlose Praxis, wie das Zentralamt in Helsinki betont, allerdings weit verbreitet. „Nur so können die Schulen flexibel auf den jeweiligen Bedarf reagieren“, sagt von Freymann. In dem Land mit hoher Binnenwanderung sei diese Flexibilität unerlässlich. Positiver Nebeneffekt: LehrerInnen mit ungenügenden Leistungen oder dauerhaften Problemen wie Alkoholsucht könnten so frühzeitig ausgesiebt werden.

Für Luxemburg besonders interessant dürfte die Förderung ausländischer Kinder sein. Mit einem durchschnittlichen Migrantenanteil von knapp zwei Prozent ist die Situation ausländischer Kinder an finnischen Schulen mit der luxemburgischen (rund 34,5 Prozent) nicht vergleichbar. Trotzdem sind die Bemühungen um die schulische Integration ausländischer SchülerInnen bemerkenswert. Diese lernen in einem so genannten Schulvorbereitungsunterricht Schreiben und Lesen in der finnischen Sprache – bevor sie mit finnischen SchülerInnen unterrichtet werden. Die Vorbereitung kann – je nach Alter des Kindes – schon in der Vorschule beginnen und ist kostenlos. Zudem erhalten sie Förderunterricht in Finnisch und haben ein Recht auf ein oder zwei Stunden Unterricht pro Woche in ihrer Muttersprache. „Sicherlich spielt die Quantität eine Rolle“, räumt Domisch auf die Frage ein, ob die vergleichsweise geringe Migration in Finnland das PISA-Ergebnis beeinflusst haben könnte. Gute Ergebnisse an Schulen in und um die Ballungszentren belegten gleichwohl den positiven Effekt einer frühzeitigen Sprachintegration. Luxemburg unternimmt mit dem „Précoce“-Projekt Schritte in die ähnliche Richtung, allerdings sind die Erziehenden dort wesentlich geringer qualifiziert, da ohne Uniabschluss.

Welche Rolle sozioökonomische und kulturelle Hintergründe im PISA-Test genau einnehmen, ist übrigens noch immer ungeklärt. „Es ist furchtbar schwierig, etwas Allgemeines über das finnische Schulsystem zu sagen“, warnt denn auch von Freymann vor vorschnellen Vergleichen zwischen Finnland und Luxemburg. Der Statistiker und PISA-Kritiker Lorenz Borsche weist auf seiner Homepage darauf hin, dass unterschiedliche sozioökonomische Hintergründe bei EinwandererInnen ebenfalls eine signifikante Rolle beim Testergebnis gespielt haben dürften. Seine Erklärung, warum ein Land wie Großbritannien mit relativ hohem Ausländeranteil erheblich besser abgeschnitten hat als Luxemburg, ist einfach: Immigrant sei eben nicht gleich Immigrant. Länder mit Immigration vorwiegend aus ärmeren Regionen wären in der Studie benachteiligt. Auch die spezifische Sprachsituation im Großherzogtum, wo ausländische Kinder zwar zunächst die Landessprache, dann aber Unterricht in Deutsch und später sogar in Französisch erhalten, lässt an der Vergleichbarkeit der Testländer Zweifel aufkommen. Die Sache erweist sich also als äußerst komplex. Was aber sind dann überhaupt die richtigen Reformen?

Die Gesamtschule wird, jedenfalls mit dieser Regierung, nicht kommen. Ebenso wenig wie eine profunde Schulautonomie. Auch eine Evaluierung der luxemburgischen LehrerInnen im Rahmen von PITA (Program for International Teacher Assessment) ist nicht vorgesehen. Stattdessen soll es eine weitere Studie über die Schülerleistungen geben, die den nationalen Vergleich erlaubt. Allerdings nur intern, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Offensichtlich hat sich Anne Brasseur ein finnisches Leitprinzip zu Eigen gemacht: bloß nicht blamieren.

Ines Kurschat


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