NATIONALSOZIALISMUS: Mörderische Sachlichkeit

Tiefe Einblicke in das Getriebe des „Dritten Reichs“ und die Mentalität der Deutschen gewähren die Bücher zweier Zeugen der damaligen Zeit.

„Der deutsche ‚Träumer’ und ‚Idealist’ ist zum brutalsten ‚Pragmatiker’ geworden, den die Welt je gesehen hat“ (Marcuse): Parade des Reichsarbeitsdienstes auf dem Zeppelinfeld in Nürnberg anlässlich des Reichsparteitags von 1936.
(Foto: faculty-web@northwestern.edu)

Zum Geschäft der Vertreter konkurrierender Forschungsansätze über den Nationalsozialismus gehört es nicht zuletzt, sich gegenseitig die Qualität und Quantität der herangezogenen Quellen madig zu machen. So kommt es, dass sich bei der Lektüre, thematisch bedingt ohnehin kein Vergnügen, manchmal auch noch der Zweifel einstellt, ob der Interpretation des Materials durch den Autor überhaupt zu trauen ist.

Umso erfreulicher ist es, dass nun gleich zwei Bücher erschienen sind, deren Autoren den Aufstieg der Nationalsozialisten selbst beobachtet und die ihre Erlebnisse und Analysen zu Papier gebracht haben. Zum einen handelt es sich dabei um die Berichte von Antoni Graf Sobanski. Der polnische Liberale hat Deutschland von 1933 bis 1936 mehrmals bereist und seine Eindrücke in 13 Reportagen festgehalten, die nun beim Berliner Parthas-Verlag erstmals in deutscher Sprache erschienen sind.

Der zweite Band ist eine erweiterte Neuauflage von Herbert Marcuses „Feindanalysen“. Marcuse, eines der prominentesten Mitglieder der „Frankfurter Schule“, konnte im US-amerikanischen Exil aus finanziellen Gründen nicht länger beim Institut für Sozialforschung bleiben. Er entschloss sich, den antifaschistischen Kampf mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen und trat in den Dienst des Office of Strategic Services beim State Department ein, wo er zwischen 1942 und 1951 mehrere Analysen über das Erstarken des Nationalsozialismus und die Möglichkeiten seiner Überwindung erarbeitete. 1998 anlässlich von Marcuses hundertstem Geburtstag erstmals erschienen, wurden sie jetzt als Teil seiner nachgelassenen Schriften vom Zu-Klampen-Verlag in einer erweiterten Version neu aufgelegt.

Bezieht man die beiden Bücher während der Lektüre aufeinander, so entsteht eine ungeahnt fruchtbare Auseinandersetzung zwischen den beiden Inhalten. Denn während Marcuse die Beschaffenheit des nationalsozialistischen Systems und seiner Anhänger darzustellen versucht, liefert Soba?ski zum einen das entsprechende Anschauungsmaterial. Außerdem ist er ein ebenso genauer wie intelligenter Beobachter. So kommt er aufgrund seiner schlaglichtartigen Alltagsbeobachtungen häufig zu denselben Schlüssen wie Marcuse in seiner Analyse aus der Distanz.

„Keine Redeparodie könnte diesen demagogischen Ton wiedergeben. Bei mir ruft das Original schon Lachen hervor.“

Sobanski fährt Mitte 1933 zum ersten Mal seit der Machtergreifung nach Deutschland, den Wunsch auf den Lippen, „dass mir meine Sympathie für diese seltsame Nation [?] nicht verloren gehen wird“. Er trifft zahlreiche alte Bekannte in Berlin, die teils für die Nazis, teils gegen sie eingenommen sind. Befremdet beobachtet er den Uniformen-Kult („wohl der hässlichste aller denkbaren Brauntöne“), erlebt die Bücherverbrennung („Große Traurigkeit ergriff mein Herz und ließ meine Tränen fließen“) mit. Sarkastisch kommentiert er „dieses spezifische Gebrüll“ der Nazi-Größen, „wenn sie die Herrschaft über die Massen erobern wollen“: „Keine Redeparodie könnte diesen demagogischen Ton wiedergeben. Bei mir ruft das Original schon Lachen hervor.“

Doch anders als bei ihm, verfehlt das Spektakel bei der Masse der Deutschen nicht seine Wirkung. So fühlt sich Sobanski, auch wegen des grassierenden Antisemitismus, angesichts dessen er jede oppositionelle Zivilcourage vermisst, bald wie in einem Paralleluniversum. Etwa, wenn er beim Besuch einer Zeitungsredaktion ein antisemitisches Pamphlet, verfasst vom Sekretär des deutschen PEN-Clubs, in die Hände bekommt: „unwillkürlich steigt in mir nervöses Lachen auf. Die Straße vor dem Fenster, die Redaktion, in der ich sitze, der Herr hinter der Theke – all das spricht dafür, dass ich mich in der zivilisierten Welt befinde. Und dann dieses unglaubliche Dokument der Verwilderung!“

Bekannte, mit denen er noch ein Jahr zuvor ausgelassen zechen konnte, scheinen selbst in geselliger Runde in Roboter verwandelt („Wieder dieser starre Blick und das wachsame Abwarten des Befehls zum Trinken.“), erklären ihm, dass es ihr inniger Wunsch sei, für „den Führer“ zu sterben. Fassungslos erinnert sich Soba?ski, dass er „für einen Moment den Eindruck gewann, das alles geschehe nicht wirklich“, er befände sich „in einem Depot mit uralten Theaterrequisiten und alles, was ich sehe, sei nur bemalte Leinwand und Kostüme aus Drillich“. Doch er verschließt die Augen nicht vor der Realität. So schreibt er auch, dass sich bereits Mitte 1933 „die Zahl der Häftlinge in den Lagern des Reiches ungefähr auf 100.000 beläuft“.

Als er abreist, resümiert Soba?ski: „Ich verlasse ein Land, und das ist vielleicht das Wichtigste, das durch primitive Stammesinstinkte und das Arteigene regiert wird. Während meines Aufenthalts in Berlin konnte ich diesen wiedergeborenen Primitivismus für keinen Moment vergessen. Eine Höhle, eine Keule und ein behaarter Ehemann, der sich schützend vor seine Frau mit fliehender Stirn stellt – solche Bilder bekommt man vor Augen, wenn man in dieser Atmosphäre der Verherrlichung von Stammesdenken lebt.“

Dennoch ahnt er, dass die Situation in Deutschland auch mit der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung zusammenhängt, die zu einer „reibungslos und zweckmäßig funktionierenden Gesellschaft“ tendiert: „Alles ist der Arterhaltung untergeordnet, nichts gereicht dem Einzelnen zum Trost und zur Belohnung. Wahrhaft eine furchtbare Vision dessen, was uns erwartet.“ Diese Überlegung leitet auch die Analysen der Theoretiker um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, zu denen auch Marcuse gehört. Wie der Soziologe Detlev Claussen in seinem Vorwort zu Marcuses Analysen schreibt, wurde Deutschland „nicht als bizarres Modell eines Sonderweges studiert, sondern, als eine historisch spezifische Form des Endes der liberalkapitalistischen Ära“. Der Nationalsozialismus (NS), so Herbert Marcuse, könne als „typisch deutsche Form der ‚Technokratie‘, d.h. als die nationalspezifische Anpassung der Gesellschaft an die Erfordernisse der Großindustrie begriffen werden“. Deutschland emanzipierte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts von der feudalistischen Kleinstaaterei und wird deshalb im Vergleich zu den großen westlichen Industrienationen häufig als „zu spät gekommene Nation“ bezeichnet. Der NS, so Marcuse, habe die „Reste des Feudalismus“ beseitigt und darüber hinaus „die relativ unabhängige Stellung all jener Gruppen zunichte gemacht, die der Entwicklung zum Großunternehmen hinterherhinkten“. In diesem Sinne könne man beim NS tatsächlich von einer Revolution sprechen – einer „Revolution der Mittelschichten“.

Möglich geworden ist der NS – innerhalb der von Soba?ski antizipierten Tendenz des Kapitalismus zu einer „reibungslos und zweckmäßig funktionierenden Gesellschaft“, zu Konzentration und Rationalisierung – gerade in Deutschland und nicht anderswo. Das stellt Marcuse deutlich heraus. Denn in der deutschen Gesellschaft, in der sich ein liberales Bürgertum nicht wirklich etablieren konnte, existierte ein tiefverwurzeltes Ressentiment gegen die bürgerliche Welt und ihre Kultur, verbunden mit einem generellen antizivilisatorischen Impuls. Schriftsteller wie Ernst Jünger und Stefan George, deren momentane Renaissance im übrigen die Aktualität dieser Haltung dokumentiert, trugen zu jener „mythologischen Schicht“ bei, die von den Nazis erfolgreich instrumentalisiert wurde. Die klassische Zweiteilung des Individuums in Privatmensch (Bourgeois) und gesellschaftliches Subjekt (Citoyen) wurde aufgehoben, wie auch alle Institutionen und Vermittlungsinstanzen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Gesellschaft und Staat – der einzelne ging in der Volksgemeinschaft auf.

Stand der moderne Staat für Gewaltenteilung und -monopol, Rechtsform und eine Souveränität, die ihre Grenze formell in der Privatsphäre seiner Bürger fand, zeichne sich der NS laut Marcuse dadurch aus, dass er „dem Staat die Unabhängigkeit und Überlegenheit“ verweigert habe. Der Staat sei ihm lediglich Mittel zum Zweck gewesen. Um dies zu erreichen, habe der NS die Autorität des Gesetzes abschaffen und das Recht in ein technisches Mittel für politische Zwecke transformieren müssen. Darin erkannte auch Soba?ski die eigentliche Revolution. Die Rechtlosigkeit werde zum Grundsatz erhoben und in Gesetzesform gekleidet, schrieb Sobanski, der diesen Prozess auf einer Kundgebung von Juristen selbst miterlebte. „Die vitalen Interessen des Volkes hat der Richter uneingeschränkt über das formale Recht zu stellen“, bekam er dort zu hören, verbunden mit der Ankündigung der Abschaffung eben dieses formalen Rechts. Die Bedeutung dessen brachte wiederum Marcuse auf den Punkt: „Das Gesetz ist nicht länger eine bestehende und allgemein bekannte Wirklichkeit, die die sozialen und politischen Interessen ausbalanciert, sondern vielmehr ihr direkter Ausdruck.“

Nach der Abschaffung der rechtlichen Vermittlungsinstanzen waren folglich alle sozialen Beziehungen unmittelbar der Führung des Staates unterstellt. Auf diese Weise werde der NS-Staat zu einem „Staat der Massen“, wie Marcuse erläutert: „aber die Massen sind nur insoweit Massen, wie sie sich aus atomisierten Individuen zusammensetzen. Weil diese allem beraubt worden sind, was ihre Individualität in eine wahre Interessengemeinschaft transzendiert, und nichts von ihnen übrig geblieben ist als ihr bestialisches und abstraktes Eigeninteresse, das in allen Menschen gleich ist, sind sie für die Vereinheitlichung von oben und für die Manipulation so anfällig“.

Der „Deutsche von heute“, schreibt denn auch Sobanski anlässlich seines erneuten Besuchs in Deutschland im Jahr 1936, sei „das bedrohliche Abbild eines Roboters“, „dessen Gesicht von der Maschine des Systems zurechtgeschliffen wurde“. Ganz nahe an dieser Charakterisierung, fasst auch Marcuse die von ihm als „zynische Sachlichkeit“ bezeichnete Haltung der Deutschen zusammen. Diese hätten ihre „Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen an die vom Nationalsozialismus zu einer machtvollen Eroberungswaffe geschmiedete technologische Rationalität angepasst“. Sie hätten gelernt, blitzschnell abzuwägen, Gedanken und Ziele zu verbergen, Handlungen und Reaktionen zu automatisieren und dem Rhythmus der alles durchdringenden Reglementierung anzupassen. Diese Sachlichkeit, so der Befund Marcuses, bilde „das eigentliche Zentrum der nationalsozialistischen Mentalität und das psychologische Ferment des Nazisystems“.

Eine Haltung, die kein wahr, kein falsch, kein Recht, kein Unrecht mehr, nur noch die „einem pragmatischen Zweck angemessenen oder unangemessenen Mittel“ kennt, so Marcuse. Ihr Resultat ist die vollkommene moralische und intellektuelle Gleichgültigkeit, oder, wie Herbert Marcuse schrieb, die „Rationalisierung des Irrationalen (bei der letzteres seine Macht behält, sie jedoch in den Rationalisierungsprozeß einfließt)“. Wohin dies führen sollte, wurde Sobanski spätestens 1936 deutlich. Bei einem Pressegespräch anlässlich des Reichsparteitags in Nürnberg lernte er Julius Streicher, den Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“, kennen, der vor internationalen Pressevertretern freimütig bekannte, man müsse die Juden „im Namen der Sicherheit für die ganze Welt vollständig ausrotten“.

Nicht nur wegen des Sarkasmus, mit dem der wortwitzige Stilist Soba?ski seine Schilderungen bisweilen garniert, um die wahnhafte Atmosphäre abzuschütteln, in der er sich bewegt, ist sein Buch auch von hoher literarischer Qualität. Sprachlich nüchtern, aber inhaltlich noch scharfsinniger dagegen die Analysen Marcuses. Eine parallele Lektüre der beiden Bücher, jedes für sich von unschätzbarem Wert, kann dem Leser einen großen Dienst erweisen. Es ist daher ein Glücksfall, dass die beiden Werke nahezu zeitgleich (wieder-)aufgelegt worden sind.

Antoni Graf Sobanski – Nachrichten aus Berlin 1933-36. Parthas-Verlag, 251 Seiten.

Herbert Marcuse – Feindanalysen. Über die Deutschen. Erweiterte Neuausgabe, Nachgelassene Schriften Band 5.
Zu-Klampen-Verlag, 169 Seiten.


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