FLÜCHTLINGSPOLITIK: Klandestin unter „Clandestinos“

Der italienische Journalist Fabirzio Gatti beschreibt in „Bilal“ eindrucksvoll die Odyssee der afrikanischen Immigranten nach Europa und klagt als Undercover-Reporter die Missstände in den Flüchtlingslagern an.

Fabrizio Gatti hat schon mehrmals verdeckt recherchiert – unter anderem als rumänischer Erntehelfer sowie im Drogen- und Mafia-Milieu.

Der Kommandant zieht den breiten Gürtel mit der großen Metallschnalle aus dem Hosenbund und schlägt zu. „Der erste Schlag trifft Elvis auf den Kopf. Der zweite ins Gesicht. Der dritte auf die Hände, mit denen der Junge unsicher und verzweifelt sein Gesicht zu schützen versucht. Elvis verliert das Gleichgewicht, fällt hin und blutet an den Händen und aus der Nase.“ Der 15-jährige Elvis gehört zu den „wahren Helden unserer Zeit“, wie Fabrizio Gatti jene Flüchtlinge und Migranten nennt, deren Odyssee er in seinem Buch „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ beschreibt. Der italienische Journalist heftete sich den Hoffenden und Verzweifelten, die Gebirge überschreiten und Wüsten durchqueren und ihr Leben riskieren oder es sogar verlieren, an die Fersen.

Der Reporter des Magazins „L’Espresso“ begleitet sie durch die Sahara bis nach Italien. Gatti ist nicht der einzige und auch nicht der Erste, der das Schicksal afrikanischer Migranten zum Thema eines Buches gemacht hat. Der deutsche Spiegel-Journalist Klaus Brinkbäumer reiste vor einigen Jahren ebenso auf der Route der Flüchtlinge quer durch mehrere west- und nordafrikanische Staaten. In seinem Buch „Der Traum vom Leben“ erzählt er die Geschichte seines Begleiters John Ampan aus Ghana und anderer Menschen, denen er auf der Reise begegnete. Und der französische, aus Marokko stammende Schriftsteller Tahar Ben Jelloun schildert in seinem Roman „Verlassen“ auf literarische Art und Weise das Leben der „Spaniuli“, die über Tanger als „Sans Papiers“ nach Spanien gelangen. Was Gatti von den beiden anderen Autoren unterscheidet ist seine Rolle als Undercover-Reporter, in die er zeitweise schlüpft. Er hatte sich bereits vorher einen Ruf als Italiens Günter Wallraff erworben und mehrmals verdeckt recherchiert – unter anderem als rumänischer Erntehelfer sowie im Drogen- und Mafia-Milieu.

Dieses Mal hat Gatti seine Recherchen am Hauptbahnhof von Mailand begonnen, wo er erfuhr, wie die so genannten illegalen Einwanderer nach Europa kommen. Er wollte sich ihrer Situation bewusst werden, erklärt er seine Motivation, ihre Strapazen am eigenen Körper spüren. So begab sich der zum Zeitpunkt des Geschehens etwa 40-jährige Autor auf die Sehnsuchtsroute der westafrikanischen Migranten, die vom Senegal über Mali, durch Niger und Libyen nach Europa führt. Zusammen mit etwa 180 anderen Mitreisenden fährt er auf einem klapprigen Lastwagen durch die Sahara. Er schreibt über die Schicksale der Menschen, denen er begegnete, und schießt Fotos dieser strapaziösen Fahrt durch das Nichts. Er lässt diese zu Wort kommen, wie zum Beispiel Hassan, der schon mehrere Jahre in Italien im Straßenbau gearbeitet hat oder den jungen Nigerianer Billy, dessen ganze Familie für die Reise gespart hat und der sein ganzes Geld an einen korrupten Grenzbeamten verliert. Er erfährt, warum sie ihr Land verlassen – weil zum Beispiel ein Akademiker mit 40 Dollar im Monat auskommen muss oder eine junge Frau nur schwer eine Arbeit findet in einer von patriarchalischen Familien- und Stammestraditionen geprägten Gesellschaft. Gatti beschreibt die Verstrickungen von Schleppern, für welche die Migranten nur eine „Ware“ sind, mit Militär und Polizei in Afrika, von Flüchtlingen und Händlern, die von den Durchreisenden leben, indem sie ihnen Lebensmittel und Wasserkanister verkaufen, sowie von den Regierungen Libyens und Italiens, die verantwortlich zeichnen für eine unmenschliche Politik der Abschiebung und Abschreckung und ein Abkommen getroffen haben, damit keine Flüchtlinge mehr auf die Apennin-Halbinsel gelangen.

Die 457 Seiten lange Reportage liest sich spannend wie ein Abenteuerroman. Mehrmals verlässt der Reporter die Rolle des Beobachters, um ins Geschehen einzugreifen: wenn er einen Kranken mit seinen Medikamenten versorgt oder Soldaten besticht. Gatti schreibt aus der Sicht der Betroffenen, obwohl er selbst in dem Moment, als er an der Grenze nach Libyen kein Visum erhält, seine Reise abbricht und nach Italien zurückkehrt, also ausschert aus dem Tross der Migranten.

„Der Käfig von Lampedusa ist die größte Lüge des vereinten Europa.“

Doch der Unverwüstliche gibt nicht auf: Er erinnert sich an den Film „Papillon“ mit Steve McQueen, der aus einem Strafgefangenenlager in Französisch-Guyana fliehen, indem er von einem Felsen springt. Gatti verbrennt seinen Ausweis, zieht sich eine Schwimmweste an und reibt sich mit stinkendem Fischöl ein – und springt ins Meer. Stundenlang treibt er im Meer, bis er als gestrandeter „Illegaler“ aufgegriffen und von den Carabinieri in das Internierungslager von Lampedusa gesteckt wird, zusammen mit mehr als tausend anderen Bootsflüchtlingen. Gatti gibt sich als ein Kurde namens Bilal Ibrahim el Habib aus. Er wirft seine Sicherheit über Bord und entscheidet sich – zumindest vorübergehend – für die Schutzlosigkeit. Er beschreibt die unmenschlichen Bedingungen in dem Lager, wo die Internierten stundenlang zwischen Fäkalien und Abfällen sitzen müssen und minderjährige Flüchtlinge gezwungen werden, sich pornografische Bilder anzuschauen. „Der Käfig von Lampedusa ist eine Schande für unsere Demokratie“, so Gatti. „Die größte Lüge des vereinten Europa.“

Empört über die Missstände in Lampedusa legt der Autor seine Zurückhaltung ab. Er gibt keine Ratschläge, aber er bezieht Position für die Menschen, die an der „Festung Europa“ scheitern oder aus ihr verjagt werden, und nimmt Anteil an ihrer Situation. Er überlässt es dem Leser, daraus Schlüsse zu ziehen. Doch die Schlüsse drängen sich auf. Lösungen zu finden, ist dagegen umso schwieriger. Doch um die kann es in Gattis Buch gar nicht gehen. Als Gatti alias Bilal aus Lampedusa entlassen wird, soll er Italien verlassen. Doch längst hat er seine Rolle als Illegaler, als „Clandestino“, verinnerlicht. Immer wieder wird deutlich, dass er aussteigen könnte. Zudem ist er im Vergleich zu seinem deutschen Pendant Wallraff die meiste Zeit weit außerhalb der Reichweite einer europäischen Gesellschaft, in die er jederzeit einsteigen könnte. Die Wüste ist weit und Lampedusa Lichtjahre entfernt von einer komfortablen Wohnung in Mailand. Mittlerweile ist das Flüchtlingslager geschlossen, die Einwandererströme haben eine andere Richtung eingenommen und verlaufen mehr über das östliche Mittelmeer via Griechenland und die Türkei. Doch das Problem ist geblieben, so dass auch Fabrizio Gattis Buch noch lange aktuell sein wird. Auch Schicksale wie das des 15-jährigen Elvis: „Auf allen Vieren schleppt er sich durch den Sand, unbeholfen wie ein flüchtendes Krokodil an Land. Der Polizist schlägt immer noch auf Elvis ein. Seine Kollegen lachen. ?Stoooop‘, schreie ich mit rasender Wut und Tränen in den Augen.“

Fabrizio Gatti ? Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Antje Kunstmann, 457 Seiten.


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