KRIMINALITÄT/JUSTIZ: Viele Augen sehen mehr

Die (Jugend-)Kriminalität ist stark angestiegen. Diesen Eindruck vermittelt die Polizeistatistik, die der Innenminister Anfang April vorgestellt hat. Doch was sagen diese Zahlen wirklich aus?

Donnerstagmorgen, gegen 7.45 Uhr, ein Polizist befestigt ein Absperrgitter am Hinterausgang des Arbed-Gebäudes. Der Sitz des weltgrößten Stahlkonzerns Arcelor ist weiträumig abgeriegelt, Polizeiwagen an jeder Ecke, drei belgische Wasserwerfer und mehrere gepanzerte Räumfahrzeuge warten auf ihren Einsatz. Spezialeinheiten rüsten sich mit Schlagstock und Helm gegen geschätzte mehrere hundert StahlarbeiterInnen, die in Luxemburg erneut gegen die Schließung von Stahlstandorten protestieren wollen. Die Kulisse wirkt martialisch, die luxemburgische Polizei demonstriert – nach den Einsätzen auf den Friedensdemonstrationen und den Hausdurchsuchungen – einmal mehr Stärke.

Liest man dazu die jüngsten Zahlen zur Kriminalität in Luxemburg, dann scheint die Bevölkerung in Luxemburg nicht nur Groß-Demonstrationen zu „fürchten“ zu haben. Die Kriminalität hat im vergangenen Jahr signifikant zugenommen: um 15 Prozent von 22.646 auf 26.046 Delikte. Schuld an dieser rasanten Entwicklung sollen vor allem Jugendliche sein. Von 12.000 Tatverdächtigen sei mehr als ein Viertel (4.533) unter 25 Jahre alt gewesen.

„Le niveau d’insécurité a augmenté de façon importante et (…) Le Grand-Duché se rapproche de plus en plus de ses voisins européens en ce qui concerne la criminalité“, resümiert der Quotidien das vom Innenminister Michel Wolter und dem Generaldirektor der Polizei, Pierre Reuland, vorgestellte Datenmaterial.

Die LSAP bläst ins gleiche Horn und attackierte wenige Tage später die Sicherheitspolitik der jetzigen Regierung scharf. Der Anstieg der Straftaten in Luxemburg sei inzwischen rekordverdächtig, kritisierte der LSAP-Abgeordnete Alex Bodry gegenüber der woxx und machte vor allem den Justizminister für diese Entwicklung verantwortlich.

Miserable Datenlage

Von Politikern und Presse kaum beachtet, bleibt allerdings die Frage nach der Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik (PFS). Diese ist äußerst begrenzt, wie ExpertInnen innerhalb und außerhalb der Polizei wissen. Denn bei der registrierten Kriminalität handelt es sich zunächst einmal lediglich um mutmaßliche StraftäterInnen – und da wiederum auch nur um jene, die der Polizei bekannt werden. Nicht umsonst sprechen seriöse Fachleute deshalb lieber von einer Tatverdächtigen-Statistik und warnen davor, polizeiliche Anfangsverdächtigungen zum wirklichen Kriminalitätsgeschehen hoch zu stilisieren.

Wer überprüfen will, wie viele der Tatverdächtigen tatsächlich verurteilt werden, landet bald in einer Sackgasse. Der sonst übliche Vergleich zwischen PKS und Strafverfolgungsstatistik, also über die tatsächlich Abgeurteilten, erweist sich in Luxemburg als unmöglich.

„Ich habe nie eine solche Statistik gesehen“, sagt kein Geringerer als der General-Staatsanwalt Robert Biever gegenüber der woxx. Der sollte es wissen. In der Tat ist auch auf Nachfrage beim Justizministerium das gewünschte Datenmaterial nicht aufzutreiben. Der stattdessen zugesandte Tätigkeitsbericht der Justiz gibt zwar Auskünfte über die Anzahl der gesprochenen Urteile der verschiedenen regionalen Strafgerichte, doch die Tabellen sind völlig unübersichtlich gestaltet und zudem unterschiedlich genau aufgeschlüsselt.

Auch das Statec-Datenmaterial lässt Fragen zur Vergleichbarkeit offen. Die Zahl der Strafurteile für das Jahr 2000/2001 (rund 3.080 Fälle) lässt aber zumindest eines erahnen: Nur ein Bruchteil der polizeilich registrierten Straftaten wird abgeurteilt. Warum viele Fälle nicht bis zur Verurteilung gelangen, ob dies in erster Linie auf den akuten Personalmangel in der Strafjustiz zurückzuführen ist, bleibt ebenfalls unklar. Auch für Luxemburg – gilt zumindest für die Öffentlichkeit die Feststellung einer Mitarbeiterin des bayrischen Landeskriminalamtes, dass die „Ausfilterungsebene der Staatsanwaltschaft immer noch weitgehend eine black box ist“.

Der Zahlenmurks geht noch weiter. Auch die Behauptung, die Jugendkriminalität sei stark angestiegen, muss hinterfragt werden. Als in Deutschland Ende der 90er Jahre Polizei, Politik und vor allem die Medien aufgeregt über eine dramatische Zunahme von delinquenten Jugendlichen berichteten, führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen drei Untersuchungen zum Thema Jugendgewalt durch. Die aus Repräsentativbefragungen, Aktenanalysen und Polizei- und Justizstatistiken bestehende Untersuchung ergab, dass die in der PKS festgestellte, mehr als dreifache Erhöhung der Gewaltkriminalität von Kindern und Jugendlichen – neben einem Zuwachs eben dieser Bevölkerungsgruppe – zu einem wesentlichen Teil auf einem geänderten Anzeigeverhalten in der Bevölkerung basierte. Das heißt, durch mehr Anzeigen wurde lediglich ein bisher verborgener Teil des so genannten Dunkelfeldes in das „Hellfeld“ überführt. Die durchschnittliche Tatschwere aber war seit 1990 stark zurückgegangen.

Mehr Anzeigen?

Wer weiß, dass in Luxemburg in den vergangenen zwei Jahren das Polizei-Personal um rund 20 Prozent aufgestockt wurde, und dies insbesondere bei der Drogenfahndung, wem zudem bekannt ist, dass Drogendelikte als typische Jugenddelikte gelten und die Polizei darüber hinaus mittels Informationsmeetings in Altersheimen die Bevölkerung verstärkt für Sicherheitsfragen sensibilisiert – den/die wird die gestiegene Jugenddelinquenz kaum verwundern.

„Auf jeden Fall haben die Zahlen etwas mit der Personalsituation zu tun“, bestätigt René Lindenlaub, Chef der polizeilichen Statistikabteilung. „Je mehr wir Präsenz auf der Straße zeigen, desto mehr bekommen wir auch mit.“ Der Chef der polizeilichen Statistikabteilung verweist auch auf den im Herbst 2001 erstmalig in den Regionen eingerichteten 24-Stunden-Dienst. In Diekirch sei zudem eine Drogensektion mit zwei Ermittlern eröffnet worden. Als Folge der personellen Verstärkung gerät die „kleine“ und „mittlere Kriminalität“ immer stärker in den Blick – nicht nur bei den OrdnungshüterInnen, sondern auch bei der Bevölkerung.

Weniger im Visier hat die Polizei dafür die Wirtschaftskriminalität. Die geplanten 20 zusätzlichen Posten beim zuständigen „Service de la police judiciaire“ sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und der akute Expertenmangel findet seine Fortsetzung bei den Gerichten. Entsprechende, alle Jahre im ministeriellen Tätigkeitsbericht wiederholte Warnungen seitens der Generalstaatsanwaltschaft vor einer Schieflage bei der Aufarbeitung von Gerichtsfällen (mit relativ schnellen Urteilen bei kleinen Delikten und schleppenden Verfahren bei aufwändigeren Straf- und insbesondere Wirtschaftssachen) haben bisher kaum etwas gefruchtet.

Derweil verschärft der Rechtsstaat seine Präsenz auf der Straße weiter: Bei Ausschreitungen auf der StahlarbeiterInnen-Demo setzte die Polizei Wasserwerfer gegen die Protestierenden ein, es soll mindestens vier Verhaftungen gegeben haben.

Ines Kurschat


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