SCHULKONFERENZ: Es geht auch anders

Wer eine andere, bessere Schule will, sollte am besten gleich heute anfangen. Die Konferenz „Beyond Basics“ von „Déi Gréng“ sprach Reformwilligen Mut zu.

Schon in den ersten Minuten wird es deutlich: Die Frau, die dort vorne am Tisch im Bonneweger Kulturzentrum einen Vortrag über eine Schule jenseits von Lernfabrik und Lehrerfrust hält, weiß, wovon sie spricht. Enja Riegel, 62, ist die ehemalige Rektorin der renommierten Helene-Lange-Schule im hessischen Wiesbaden, berühmt geworden vor allem durch traumhafte Ergebnisse beim ansonsten desaströs ausgefallenen Pisa-Test Deutschland. Bei der Lesekompetenz erreichten die SchülerInnen ihrer Schule im Mittel 579 Punkte – weit mehr als Pisa-Sieger Finnland, dessen SchülerInnen im Durchschnitt auf 546 Punkte gekommen waren. „Wir wussten schon immer, dass wir gut waren“, sagt die Pädagogin selbstbewusst. Tatsächlich ist ihr und ihren KollegInnen etwas gelungen, was es sonst in kaum einem anderen Bundesland gibt: eine Gesamtschule zu gründen, der die Eltern die Türen einrennen.

An zwei Tagen, am vergangenen Freitagabend und am darauf folgenden Samstag, erklärten sie und die pädagogische Leiterin der Reformschule, Ingrid Kaiser, im Rahmen der von Déi Gréng organisierten Bildungskonferenz „Beyond Basics“ vor etwa 90 ZuhörerInnen das Geheimnis ihres Erfolges: viel Projekt- und Gruppenarbeit, viel Engagement und einen starken Willen. Statt auf den traditionellen Frontalunterricht setzt das ehemalige Gymnasium, das sich 1986 freiwillig in eine integrierte Gesamtschule umwandelte, auf Lernprojekte. Dann arbeiten die Kinder mehrere Wochen lang fächerübergreifend etwa zum Thema „Wasser“, und dies sowohl praktisch mit Inselbesuchen und angeleiteten Untersuchungen von Wasserproben wie theoretisch.

Mit Kopf, Herz und Hand

Ein solcher lebensnaher Unterricht fordert nicht nur den Ideenreichtum der SchülerInnen, auch die Lehrkräfte sind gefordert. „Der Lehrer ist Lernberater, nicht Professor der Wissenschaft“, betont Enja Riegel. Selber lernen statt Belehrung, Lernen durch Fehler, fachübergreifender Unterricht und Theateraufführungen sind die methodischen Eckpfeiler der „Hela“-Pädagogik, Leitlinien, von denen viele deutsche LehrerInnen – und luxemburgische – bis heute nichts wissen wollen. Dabei, das wird im Vortrag immer wieder deutlich, ist Veränderung verknöcherter Schulstrukturen auch hierzulande möglich.

„Es braucht Mut“ – die energische Rektorin nimmt kein Blatt vor den Mund. Man habe einiges gemacht, ohne zunächst bei der Schulbehörde um Erlaubnis anzufragen, so lautet ihre Antwort auf die Frage, wie es möglich gewesen sei, umstrittene Reformideen in die Wirklichkeit umzusetzen. Eine Haltung, die sicherlich nicht nur bei deutschen Behörden für Aufregung gesorgt haben dürfte: Auf der Konferenz in Luxemburg wurden derartig politische Statements von manch einem ministeriellen Teilnehmer mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert.

Skeptische Wiesbadener Eltern und LehrerInnen wurden allmählich für die neue Schulform gewonnen, mit viel Transparenz, Partizipation und Verhandlungsgeschick. Lehrkräften, die sich nicht mit der Entwicklung anfreunden wollten, wurde auch schon mal der Abschied nahe gelegt. Enja Riegel befürwortet eine weitgehende Autonomie der Schulleitungen – auch in Personalfragen – und kritisiert unverhohlen allzu „starre und unzeitgemäße Gewerkschaftspositionen“. Den hessischen Schulrat und das Kultusministerium überzeugten vor allem die hervorragende Ergebnisse, wobei allerdings die Lage der Helene-Lange-Schule nicht vergessen werden darf: Mit einem Ausländeranteil bei den SchülerInnen von etwa zehn Prozent liegt die Schule in einer eher sozial ausgewogenen Wohngegend. Der überwiegende Teil der Eltern, die ihre Kinder in die „Hela“ schicken, hat ein höheres Bildungsniveau, auch wenn die Schulleitung nach den Worten Ingrid Kaisers bemüht ist, „SchülerInnen aus allen Gesellschaftsschichten dabei zu haben“.

Wie überaus wichtig die soziale und kulturelle Herkunft der SchülerInnen beim Abschneiden im Pisa-Test ist, betonte auch Walo Hutmacher. Doch anders als viele anderen interpretierte der Genfer Pisa-Experte in seinem Vortrag die Test-Ergebnisse „ausländerfreundlich“. Statt auf soziale Selektion und leistungshomogene Klassen zu setzen sowie in erster Linie die starken Kinder und Jugendliche zu fördern, sei für bessere Resultate das Gegenteil notwendig: Pisa habe bewiesen, dass eine Unterstützung der Schulleistungen von Lernschwachen – und das sind meist AusländerInnen und sozial Benachteiligte – das Leistungsniveau der Schule insgesamt anhebt.

… und raus bist du

Eine Nachricht, bei der die luxemburgischen Verantwortlichen die Ohren spitzen sollten. Denn ähnlich wie das dreigliedrige deutsche Schulsystem setzt auch das luxemburgische auf eine Trennung zwischen guten und schlechten SchülerInnen – mit dem Resultat, dass die Schlechten vernachlässigt und somit auch die Guten „schlechter“ werden. Der ebenfalls geladene Dozent Romain Martin vom „Institut supérieur d’études et de recherches pédagogiques“ kam in seinem Beitrag zum selben Ergebnis.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das geplante Pilotprojekt „EST“ an Bedeutung. Der Ansatz, die jetzigen Lehrpläne radikal zu entschlacken und dadurch mehr Zeit für die Schülerbetreuung und die Wissensanwendung zu bekommen, dürfte immerhin seine Berechtigung haben; ein Schwerpunkt, den Elternorganisationen und Gewerkschaften allerdings schon seit Jahren fordern.

Doch wer dabei nur auf „Basics“ setzt, irrt. Es heißt Abschied nehmen von bequemen Lehrtraditionen. Laut Hutmacher ist es dringend erforderlich, dass LehrerInnen ihre Methodenkompetenz fortwährend erweitern. Und ohne engagierte Direktionen und Lehrkräfte, die den Mut haben, „Experimente“ energisch zu unterstützen, kann man das Ganze – um mit den Worten Riegels zu sprechen – „am besten gleich lassen“. Alles eine Frage des (politischen) Willens.

Ines Kurschat


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