GLÜCKSSPIEL: Wahrnehmungsverzerrung

Auch sieben Jahre nach der Gründung der a.s.b.l. Anonym Glécksspiller wird Spielsucht in Luxemburg noch immer weitgehend tabuisiert. Die woxx sprach mit Peter Kagerer, dem Psychologen der Beratungsstelle.

Zu wenig Zeit für Beratungsgespräche.
Peter Kagerer arbeitet
20 Stunden pro Woche
als Psychologe bei
der Vereinigung
„Anonym Glécksspiller“.

woxx: Glückspiele gibt es wahrscheinlich, seit es Menschen gibt. Spielen heutzutage mehr Menschen als früher, oder wird der moderne Mensch schneller abhängig?

Peter Kagerer: Das ist bei ganz vielen Krankheitsbildern so, dass man, wenn man genauer hinzuschauen beginnt, plötzlich viel mehr sieht als vorher. Ich glaube, dass das Glücksspiel früher auch schon sehr weit verbreitet war – denken Sie an den 30-jährigen Krieg mit den spielenden Landsknechten oder auch an die Dorfkneipen, in denen Äcker und ähnliches verspielt wurden, wovon manche Familien noch nach Jahrhunderten berichten können. Ich glaube nicht, dass heute in größerem Umfang gespielt wird als früher; es wird nur anders gespielt, und das Angebot ist alltäglicher, und es ist viel bequemer…

Wie viele Menschen sind in Luxemburg von Glücksspielsucht betroffen? Es wurde ja bereits im Jahre 2003 die Zahl von 4.500 Personen genannt. Gibt es gar keine Statistik?

Nein. Deshalb betone ich auch immer, dass das eine Schätzung ist, die auf den Werten beruht, die wir aus anderen Ländern kennen – das können 500 weniger oder auch 500 mehr sein -, aber die Zahl 4.500 halte ich für einigermaßen realistisch, so dass man mit ihr arbeiten kann.

Nicht wenige Menschen spielen in bestimmten Lebensabschnitten sehr viel, hören dann aber auch wieder damit auf. Wann ist ein Mensch so abhängig, dass er Hilfe in Anspruch nehmen sollte?

Wir glauben – auch aus der Erfahrung mit anderen Süchten -, dass Hilfe so früh wie möglich in Anspruch genommen werden sollte, denn je früher sie einsetzt, desto größer ist die Chance, dass die Betroffenen das Aufhören tatsächlich schaffen. Denn das ist das Merkmal, das letztendlich die Sucht ausmacht, dieses Nicht-mehr-aufhören-Können… Bei PC-Spielen ist momentan ein Richtwert in der Diskussion: 30-35 Stunden wöchentlich. Ich bin allerdings der Meinung, dass dieser Wert nur aussagekräftig ist, wenn er über einen längeren Zeitraum hinweg erreicht wird.

Glückspieler sind einsame Männer und kommen nicht aus dem Bildungsbürgertum – trifft dieses Klischee zu? Gibt es Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation oder ihres psychisch labilen Zustandes besonders gefährdet sind?

Dass Glücksspieler einsame Männer sind, würde ich vorsichtig bejahen, aber natürlich gibt es auch einsame Glückspielerinnen. Dass sie nicht aus dem Bildungsbürgertum kommen, würde ich dagegen nicht bejahen, weil sich das Glücksspiel, wie andere suchtgefährdete Aktivitäten auch, durch alle Schichten zieht. Die verschiedenen Gruppierungen sind natürlich zahlenmäßig vertreten, aber es gibt genauso gut Glücksspieler mit einem Universitätsabschluss – die dann aber vielleicht eher auf die Pferderennbahn oder ins Casino gehen – wie GastarbeiterInnen oder Jugendliche, die man eher beim „zubito“ findet.

„Die große Wahrnehmungsverzerrung ist die Idee, es irgendwie im Griff zu haben, ein System oder Anzeichen dafür zu haben, dass ich dieses Geld noch einmal hereinkriege übers Glücksspiel.“

Wie ist Glücksspielsucht diagnostizierbar, und wo verläuft die Grenze zur Abhängigkeit?

Im DSMV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Diseases 5) gibt es seit kurzem eine offizielle Bestimmung der Kriterien des pathologischen Glücksspiels. Es geht um Momente wie: Hat jemand mehr Zeit mit dem Spielen verbracht, als gesund ist, gibt es Einschränkungen in den Sozialbeziehungen, im Arbeitsleben, in den Hobbies? Haben sich die Freizeitaktivitäten reduziert? Wurden Freunde und Verwandte um Geld zum Spielen angegangen, das heißt, hat der Betroffene mehr gespielt, als er sich eigentlich leisten kann. Wurde – ganz wichtig – Geld auf illegalem Wege beschafft …

Das heißt, Beschaffungskriminalität ist eine Folgeerscheinung von Glücksspielsucht?

Ja, sie tritt häufig als Folge auf. Davor kommt die, oft hochgradige, Verschuldung. Ein wichtiges Indiz ist deshalb, ob die betreffende Person versucht hat, die durch das Glücksspiel verursachten Schulden durch weiteres Glücksspiel wieder auszugleichen.

Besteht darin der Anreiz? Ist es die Hoffnung auf den großen Jackpot?

Ja – das ist die große Wahrnehmungsverzerrung, die letztendlich in jeder Sucht steckt: die Idee, es irgendwie in den Griff zu kriegen, ein System oder Anzeichen dafür zu haben, dass dieses Geld übers Glücksspiel doch noch einmal hereinkommt. Doch die Statistik ist eindeutig: Auf Dauer kann man nicht gewinnen!

Mit welchen Krankheiten geht Glücksspielsucht außerdem einher?

Mit den Folgen von hohem Kaffee- und Zigarettenkonsum, teilweise auch von Alkohol und anderen Drogen, und besonders der Kombination von aufputschenden Mitteln und nach der Erregung des Spiels eingenommenen Beruhigungsmitteln, die die Betroffenen wieder herunterbringen und ihnen ermöglichen sollen, zu schlafen. Und es gibt auch Mangelerscheinungen durch schlechte Ernährung, auch Haltungsschäden, häufig hohe Nervosität bis hin zu Herz-Rhythmusstörungen, Magenprobleme… Die wichtigste Folgekrankheit ist aber die Depression; die Spieler verlieren ihre Lebensfreude und den Kontakt zu ihren Freunden. Das ist auch der Grund, weswegen sie in Behandlung kommen; sie sagen, ich bin schlecht drauf, ich komme nicht mehr hoch usw. Äußerungen dieser Art bringen uns häufig überhaupt erst darauf, die Frage nach dem Glücksspiel zu stellen.

Sind regelmäßige Besuche von Internet-Communities und Chat-Rooms, wie Facebook oder Twitter, schon Vorstufen zur Sucht? Etwa, wenn jemand zehnmal täglich seinen Facebook-Account checkt?

Bei zehnmal täglich würde ich mir auf Dauer schon Sorgen machen. Natürlich ist das auch ein Zeichen von Pubertät, von Jugend, aber wenn sich das steigert und sogar nachts zwanghaft nachgesehen wird, dann ist das sicherlich ein Grund zur Besorgnis.

Verschmelzen bei Online-Spielen virtuelle Realität und Wirklichkeit?

Das ist insbesondere bei Online-Rollenspielen der Fall, dass sich Menschen eine zweit- oder dritte Figur schaffen, den so genannten Avatar, und ganz vieles von ihrer Identität, vor allem ihre positiven Eigenschaften, mit dieser Figur verbinden. Die Gefahr dabei ist, dass die positiven Eigenschaften nur noch im Spiel, nur noch in der virtuellen Realität gesehen werden und die weniger geschätzten Eigenschaften im realen Leben. Dann kommt es zu einer Spaltung. Die Betroffenen fühlen sich dann im virtuellen Raum wohler und glauben das, was sie brauchen, dort zu finden, während sie im realen Leben verkümmern… Da werden dann Hobbies, die Familie und sportliche Aktivitäten vernachlässigt. Ganz häufig finden wir Leute, die über viele Stunden den Raum, in dem sie sitzen, nicht mehr verlassen.

„Es gibt ein Glücksspielmonopol, und dieses verpflichtet dazu, entsprechende Präventionen und auch Heilungsmaßnahmen zu treffen.“

Mit welchen politischen Forderungen verknüpft die asbl ihr Engagement? Wünschen Sie sich eine strengere Reglementierung für Minderjährige?

Eine strengere Reglementierung gerade im Bereich Jugendschutz halte ich für angemessen. Also dass Jugendliche von Spielhallen und Gaststätten ferngehalten werden, in denen Zubito gespielt wird ? generell von allem, wo sie früh mit Glücksspiel in Berührung kommen könnten. Hier sollten frühzeitig Grenzen gezogen werden, weil gerade Jugendliche sehr gefährdet sind. Ansonsten bin ich nicht der Meinung, dass die politische Forderung in Richtung eines generellen Verbotes gehen sollte. Anzustreben ist vielmehr ein klar geregeltes Angebot, etwa so, wie es in Deutschland jetzt noch einmal vom Europäischen Gerichtshof gefordert wurde. Dort hat der Staat das Monopol auf Glücksspiele, und dieses verpflichtet ihn dazu, entsprechende Präventionen und auch Heilungsmaßnahmen vorzusehen, weil einfach ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung mit dem Glücksspielangebot nicht vernünftig umgehen kann. Für diese Klientel muss gesorgt werden, was eigentlich schon in den Zuständigkeitsbereich des Gesundheitsministeriums fällt. Im übrigen müsste die Werbung für Glücksspiele eingeschränkt werden ? das würde erheblich zum Schutz junger Leute beitragen. Eine gute Aufklärungsarbeit, wenig Werbung und vielleicht auch ein Augenmerk darauf, dass in den Medien Süchte nicht als etwas Positives, Trendiges dargestellt werden.

Welche konkrete Hilfe bietet Anonym Glécksspiller a.s.b.l. an?

Das Angebot besteht zunächst einmal darin, überhaupt Kontakt zu uns aufzunehmen und über das Problem zu sprechen. Wir sind jetzt über Telefon und per E-Mail erreichbar, aber wir machen, wo immer es geht, auch persönliche Gesprächstermine, weil übers Telefon keine wirkliche persönliche Beratung stattfinden kann.

Wie viele Betroffene haben sich bei Ihnen gemeldet, seit es die asbl gibt? Und wie vielen haben Sie konkret helfen können?

In der kurzen Zeit ist es schwer, eine repräsentative Zahl zu nennen. Wenn wir die Meldungen über Telefon und Internet hinzunehmen, haben sich seit Mai 2010 bei mir 50, 60 Betroffene und Angehörige gemeldet. Ich kann nicht sagen, wie viele es bei dem Präsidenten Romain Juncker, der das Nottelefon verwaltet, waren. In manchen Wochen bekommt er allerdings 20-25 Anrufe. Was die Erfolgsquote betrifft, so weiß ich von zehn bis zwölf Leuten, die mit dem Spielen aufgehört haben, seit sie mit uns in Kontakt getreten sind.

 

Anonym Glécksspiller a.s.b.l.
Die Luxemburger Vereinigung Anonym Glécksspiller a.s.b.l. wurde im Juni 2003 gegründet, mit dem Ziel, jegliche Maßnahmen zu fördern, mit denen sich Spielsucht verhindern lässt, und die Betroffenen und deren Familienangehörigen durch individuelle Betreuung und Hilfestellung zu unterstützen. Sie bietet spielsüchtigen Menschen die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe an und steht für Beratungssitzungen zur Verfügung. Ziel der Vereinigung ist die Aufklärung und Prävention von Betroffenen und deren Familien.
http://www.anonym-glecksspiller.net


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