VERLAG EINAUDI: Der kritische Geist von Turin

Maike Albath hat den Werdegang des Turiner Verlags Einaudi aufgeschrieben. Warum dort ein revisionistisches Geschichtsbild hegemonial werden konnte, lässt sich indes nicht erklären, solange auf eine Auseinandersetzung mit den blinden Flecken des jahrzehntelang kultivierten antifaschistischen Selbstbildnisses der Linken verzichtet wird.

Von der kriegerischen Ästhetik eines Gabriele D’Annunzio oder Ernst Jünger angezogen, sympathisierte er nach der deutschen Besetzung Norditaliens für kurze Zeit mit den Nationalsozialisten:
Der Verleger Cesare Pavese.

Die italienische Nachkriegskultur hat ein Markenzeichen: den stolz aufgereckten Straußenvogel des Turiner Einaudi-Verlags. Er stand jahrzehntelang für schöne Literatur, gute Übersetzungen und engagierte Essays. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Maike Albath erinnert in einem schmalen, bibliophilen Bändchen an die Geschichte des berühmten Verlagshauses: „Der Geist von Turin“ soll nicht vom gegenwärtig vorherrschenden politisch-kulturellen Ungeist verdrängt werden. Sie portraitiert die drei Verlagsgründer Cesare Pavese, Leone Ginzburg und Giulio Einaudi in der Hoffnung, Italien möge eines Tages aus dem „Berlusconi-Taumel“ erwachen und zu alter, intellektueller Größe zurückfinden.

Mit der klaren Trennung zwischen einem ehemals schönen und nunmehr hässlichen Italien macht es sich die Autorin allerdings zu einfach. Das Turiner Verlagshaus geriet in wirtschaftliche Schwierigkeiten lange bevor das „grelle und spektakulär vulgäre TV-Italien Berlusconis“ sich durchsetzen konnte. Albath muss selbst eingestehen: „Die Entwicklung Einaudis ließe sich auch als eine Parabel auf den Niedergang der italienischen Linken insgesamt verstehen, die heute taumelnd nach ihrer Identität sucht. Das Haus, das schon seit 1994 zu Mondadori und damit zu Berlusconis Medienimperium gehört, ist auch ein Exempel für die Umwälzungen, die Italien in den letzten Jahrzehnten erfahren hat.“

Der Philosoph Norberto Bobbio gehörte zu den berühmtesten Intellektuellen aus dem Einaudi-Umfeld, dem Kompromisse mit dem faschistischen Regime vorgeworfen wurden.

Während die Politik Nachkriegsitaliens über vierzig Jahre lang von der christdemokratischen Partei beherrscht wurde, prägten linke Intellektuelle, Filmemacher und Schriftsteller das kulturelle Leben. In enger Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei Italiens schuf der Einaudi-Verlag die Meistererzählung von der italienischen Wiedergeburt im Geist des antifaschistischen Widerstands. Der Befreiungskampf der Resistenza gegen den nazifascismo wurde zum Gründungsmythos der Republik stilisiert. „Die Einaudianer stimulierten, lasen und verlegten sich nicht nur gegenseitig, sondern bemühten sich auch noch um gut platzierte Besprechungen in den großen Blättern. Dass sie die Titel selbst herausgebracht hatten und natürlich selbst Partei waren, spielte keine Rolle. Im Gegenteil: Sie wollten den Diskurs bestimmen und kulturelles Territorium besetzen. Sie machten Politik.“

Mitte der Achtzigerjahre änderte sich das politisch-kulturelle Klima. In der italienischen Öffentlichkeit begann eine geschichtsrevisionistische Debatte, die den Resistenza-Mythos in Frage stellte. Seit Berlusconis erstem Wahlsieg 1994 hat sich diese Diskussion verschärft. Der Revisionismus zielt darauf ab, den italienischen Faschismus aufzuwerten und die kulturelle Hegemonie der Linken zu brechen. Als Anfang der Neunzigerjahre Journalisten des rechten Spektrums anfingen, an die Verstrickungen führender Nachkriegsintellektueller mit dem faschistischen Regime zu erinnern, ging es weniger um die Aufarbeitung konkreter Verbrechen oder moralischer Verfehlungen, sondern allgemein um die Demontage des italienischen Antifaschismus. Der inzwischen verstorbene Philosoph Norberto Bobbio gehörte zu den berühmtesten Intellektuellen aus dem Einaudi-Umfeld, dem Kompromisse mit dem faschistischen Regime vorgeworfen wurden. Albath betont, dass er „offen und selbstkritisch“ auf die Anschuldigungen reagiert habe: „Ganz anders als viele seiner deutschen Generationsgenossen, denen ihre Verwicklung mit dem NS-Regime ebenfalls mit großer Verspätung vorgehalten wurde – die Verhältnisse sind allerdings kaum vergleichbar. Der italienische Faschismus unterschied sich vom deutschen Nationalsozialismus erheblich; er ist allerdings auch viel weniger aufgearbeitet worden. Auch deshalb gibt es in Italien nicht diese moralische Hysterie, die in deutschen Medien in solchen Fällen häufig geschürt wird.“ Die sprachliche Unbeholfenheit dieses Abschnitts verrät eine inhaltliche Schwäche des Buches. Dass sich die deutsche Literaturwissenschaftlerin mit moralischen Urteilen über das Verhalten italienischer Intellektueller während des Faschismus zurückhalten möchte, lässt sich nachvollziehen (ungerechtfertigt ist dagegen, dass sie gleichzeitig denjenigen, die die „deutschen Generationsgenossen“ kritisieren, ein krankhaftes Verhalten unterstellt), doch um den Rechtsruck der italienischen Gesellschaft zu begreifen, hätte sich Albath mit der mangelnden Aufarbeitung des Faschismus in Italien auseinandersetzen müssen. Warum das revisionistische Geschichtsbild hegemonial werden konnte, lässt sich indes nicht erklären, solange man auf eine Auseinandersetzung mit den blinden Flecken des jahrzehntelang kultivierten antifaschistischen Selbstbildnisses der Linken verzichtet.

Ein verklärter Blick auf die Anfangsjahre des Verlags und die Fortschreibung des Resistenza-Mythos werden gegen den aktuellen Revisionismus nichts ausrichten können.

Der Einaudi-Verlag wurde 1933 gegründet. Der faschistische Diktator Mussolini regierte bereits seit über zehn Jahren, das Regime hatte seine Macht konsolidiert. Albath unterschlägt nicht, dass Einaudi in den ersten zehn Jahren seines Bestehens eine ambivalente Haltung gegenüber dem Faschismus einnahm. Zwar entstammten alle drei Verlagsgründer dem in Turin sehr ausgeprägten liberalen, antifaschistischen Milieu, doch anders als ihr jüdischer Freund Ginzburg konnten Pavese und Einaudi auf Zugeständnisse hoffen, sogar mit dem Regime verhandeln. Albath rechtfertigt und verharmlost die Kompromisse als ebenso geschickte, wie notwendige „diplomatische Schachzüge“ zur Aufrechterhaltung editorischer Freiräume. Die Rolle, die Einaudi-Mitarbeiter im faschistischen Literaturbetrieb tatsächlich einnahmen, wird keiner kritischen Analyse unterzogen. Die Autorin macht sich grundsätzlich die entlastende Selbstdarstellung Einaudis zu Eigen.

Das Schicksal des jungen Verlagsmitarbeiters Giaime Pintor, der sich 1943 für den aktiven Widerstand entschied und nach wenigen Wochen von einer deutschen Mine getötet wurde, beschreibt sie als paradigmatisch: „Anfänglich vom Faschismus durchaus angezogen, steht der charismatische Pintor für einen Wandel, den seine Generation durchgemacht hatte: Dass ausgerechnet er sterben musste, bestürzte die Einaudianer. Unzählige Altersgenossen waren von einem ähnlichen Drang wie Pintor getrieben.“ Diese Darstellung schreibt nicht nur die Legende von der Resistenza als Massenbewegung fort, sie übergeht leichtfertig die Zeit vor dem vermeintlichen „Wandel“. Der 1919 geborene Pintor gehörte zur ersten Generation, die komplett im Faschismus sozialisiert worden war. Der alte, bürgerlich-liberale Antifaschismus, der das Regime als „Krankheit“ betrachtete, die das Land überstehen würde, war ihm fremd. Mussolinis Herrschaft schien ihm auf Dauer gestellt. Deshalb betrachtete er auch den konspirativen Antifaschismus der Widerstandsgruppen, der darauf spekulierte, die italienischen Massen könnten sich gegen die Diktatur erheben, kritisch. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gehörte Pintor zur jungen intellektuellen Führungsschicht des Regimes. Wie viele seiner Weggefährten arbeitete er sowohl für die faschistischen Kulturinstitutionen als auch für den Einaudi-Verlag. Er war ein anerkannter Germanist, als literarischer Vermittler reiste er häufig ins nationalsozialistische Deutschland. Den offiziellen NS-Dichtern konnte er nichts abgewinnen, er übersetzte Rilke und begeisterte sich für die elitären, antidemokratischen Schriften Carl Schmitts. Erst nach Mussolinis Sturz im Juli 1943 entschied sich Pintor für den patriotischen Befreiungskampf gegen die deutschen Besatzer.

Unzählige seiner Altersgenossen verhielten sich dagegen wie der Verlagsgründer Cesare Pavese. Von der kriegerischen Ästhetik eines Gabriele D’Annunzio oder Ernst Jünger angezogen, sympathisierte er nach der deutschen Besetzung Norditaliens für kurze Zeit mit den Nationalsozialisten. Albath zitiert aus seinem Arbeitstagebuch: „Boden und Blut – heißt es nicht so? Die Leute haben den richtigen Ausdruck gefunden. Warum hast du 1940 wohl angefangen, Deutsch zu lernen? Diese Lust, die dir damals mit dem Nutzen zusammenzuhängen schien, war der Impuls des Unterbewusstseins, in eine neue Wirklichkeit eintreten zu wollen. Ein Schicksal, amor fati.“ Dieser offenkundigen Faszination für die nationalsozialistische Ideologie fügt Albath die erklärend-entschuldigenden Sätze hinzu: „Paveses plötzliches Bekenntnis zu Blut und Boden klingt eine Spur zu selbstsicher und hat mit Gewissensbissen zu tun. Während seine Freunde ihr Leben riskierten, hatte er sich der Verantwortung entledigt. Dass er sich jetzt in Mythentheorien und Blutsrituale vertiefte, zeigt seine Schwäche in aller Deutlichkeit. Wenn es um Politik ging, war er sehr von den Zeitstimmungen abhängig.“ Ganz anders beschrieb Pavese seine Haltung in dem noch während des Krieges verfassten, deutlich autobiographische Züge aufweisenden Roman „Das Haus auf den Hügeln“. Darin gehört der Protagonist zur sogenannten „Grauzone“, er entscheidet sich während des Bürgerkriegs 1943-45 weder für die Unterstützung der Nazifaschisten noch für den Partisanenkampf, sondern verharrt bis Kriegsende in einem Versteck. Gewissensbisse plagen ihn selten, er steht zu seiner Entscheidung.

Der Begriff der „Grauzone“ wurde von Primo Levi geprägt. Auch er ist Einaudi-Autor, doch keiner der ersten Nachkriegsstunde. Der Bericht des ehemaligen Auschwitz-Häftlings „Ist das ein Mensch“ wurde 1946 zunächst nicht bei Einaudi publiziert. In einem Brief Paveses, der auf die Absage an Levi Bezug nimmt, heißt es: „Wir lehnen generell jedes Buch zu diesem Thema ab.“ Die Geschichte der jüdischen Opfer hätte Fragen nach den faschistischen „Rassegesetzen“ und einer italienischen Mitverantwortung an der Shoah aufgeworfen. Erst in den späten Fünfzigerjahren änderte sich die Verlagspolitik, nun konnte auch Levis Buch bei Einaudi erscheinen.

In ihrer Darstellung der faschistischen Diktatur bedient sich Albath nicht selten Bagatellisierungen und Verharmlosungen, die für den revisionistischen Vergangenheitsdiskurs in Italien typisch sind. So beschreibt sie die Mussolini-Anhänger als „oberflächlich angepasste Faschisten“, als „Karrieristen mit dem richtigen Parteibuch“ und kolportiert den Mythos von den anständigen Italienern: „immer wieder stellten selbst Polizeipräsidenten jüdischen Flüchtlingen Pässe aus und widersetzten sich amtlichen Anweisungen.“ Die Weigerung der Einaudianer, sich mit der faschistischen Vergangenheit einiger Mitarbeiter und der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden auseinanderzusetzen, lässt Albath unerwähnt. Stattdessen zitiert sie einmal mehr unkritisch Giulio Einaudi, der 1946 die Linie des Verlags vorgab: „Das Verlagshaus Einaudi hat seine Aktivitäten wieder aufgenommen. Wir tun dies in Erinnerung und im Namen von Leone Ginzburg und Giaime Pintor, die für die Befreiung Italiens gefallen sind, nachdem sie die Entwicklung und die Richtung des Verlags durch ihre moralische Haltung und ihren Geist geprägt haben. Auf dieses Erbe und auf seine Kontinuität ist der Verlag stolz, fühlt sich beiden verpflichtet, baut darauf ohne Reue und Vorbehalte auf [?].“

Die Autorin hätte gut daran getan, sich mehr auf den zeitgenössischen kritischen Geist von Turin zu berufen.

Die Unterschiede in den Biographien Ginzburgs und Pintors werden dabei einfach übergangen. Ginzburg war zehn Jahre älter als Pintor: er gehörte seit Beginn der Dreißigerjahre zu jenem konspirativen Antifaschismus, den der Jüngere ablehnte. Das Regime bestrafte seinen politischen Widerstand mit Haft. Infolge der antijüdischen Gesetze wurden Ginzburg die italienische Staatsbürgerschaft und alle damit verbundenen zivilen Rechte aberkannt, er wurde mit seiner Familie in ein süditalienisches Bergdorf verbannt. Nach Mussolinis Sturz schloss er sich dem römischen Widerstand an. 1944 wurde er bei einer Razzia aufgegriffen und in einer Gefängniszelle der deutschen Besatzer zu Tode gefoltert. Die sozialistisch-republikanische Aktionspartei, der Ginzburg angehört hatte, forderte nach dem Krieg eine klare Abgrenzung von den ehemaligen Faschisten und eine Art re-education für die Generation der im Faschismus sozialisierten Intellektuellen. Giulio Einaudi folgte dagegen der von der Kommunistischen Partei vorgegebenen Linie, die mit dem Faschismus kompromittierten jungen Leute am Aufbau einer „progressiven Demokratie“ zu beteiligen, er band sie in die Verlagsarbeit mit ein.

Die problematischen Aspekte dieser Art Vergangenheitsbewältigung werden von Albath nicht thematisiert, stattdessen beschwört sie den antifaschistischen Geist von Turin gegen die „kulturelle Barbarei“ des Berlusconi-Regimes. Doch der verklärte Blick auf die Anfangsjahre des Einaudi-Verlags und die unhistorische Fortschreibung des Resistenza-Mythos werden gegen den Revisionismus nichts ausrichten können und kaum zur erhofften kulturellen „Wiedergeburt“ Italiens beitragen. „Das Erbe der Via Biancamano – dem Stammsitz des Einaudi-Verlags – ist ein Reservoir, auf das sich zurückgreifen ließe“, schreibt Albath am Schluss ihres Buches. Dies gilt tatsächlich auch für die notwendige Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit: wichtige Arbeiten zum Thema wurden in den vergangenen Jahren von Turiner Historikern bei Einaudi oder in Verlagshäusern, die von ehemaligen Einaudi-Mitarbeitern gegründet wurden, veröffentlicht. Die Autorin hätte gut daran getan, sich mehr auf den zeitgenössischen, kritischen Geist von Turin zu berufen.

Maike Albath – Der Geist von Turin.
Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1945.
Berenberg Verlag, 192 Seiten.


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