CLAUDE TURMES: „Für eine dezentrale Stromversorgung“

Wie chaotisch es auf dem US-Strommarkt zugeht, hat sich vergangene Woche gezeigt, als 50 Millionen Menschen im Dunkeln saßen. Wir befragten den Grünen Stromexperten Claude Turmes zur Versorgungsstabilität in der EU und zu den Folgen der Liberalisierung.

woxx: Nach dem großen Stromausfall in den USA versichern uns die Experten reihenweise, ein solches Blackout könne es in Europa nicht geben.

Claude Turmes: Dass dies in Europa nie passieren könnte, ist nicht ganz richtig. Wahr ist allerdings, dass in Europa die Investitionen in die Stromnetz-Infrastrukturen viel höher sind. Darüber hinaus ist die Stromversorgung im Allgemeinen viel dezentraler organisiert als in Nordamerika. Viele kleine Produktionseinheiten nahe am Ort des Verbrauchs verringern die Abhängigkeit von den großen Verbindungsleitungen. Das Wegbrechen von drei solcher Leitungen scheint ja die Ursache des großen Blackouts gewesen zu sein.

Innerhalb der EU ist Frankreich wohl das Land, in dem ein solches Szenario am wahrscheinlichsten ist. Die Produktionskapazitäten sind stark konzentriert, und der größte Teil des Stroms kommt aus AKW. Bei einem Netzzusammenbruch müssen die Atomreaktoren heruntergefahren werden, und es kann Wochen dauern, bis sie wieder ans Netz können. Ganz zu schweigen von dem Risiko: Während der Strompanne müssen die AKW mit Hilfe von Notaggregaten gekühlt werden. Was, wenn diese Aggregate nicht funktionieren, wie das bei Kontrollen in den USA mehrfach festgestellt wurde?

Ein Teil der KommentatorInnen sieht die Schuld am Desaster in der Deregulierung der US-Stromwirtschaft in den 90ern. Ist die EU mit der Liberalisierung ihres Strommarktes auf dem falschen Weg?

Die Liberalisierung ist in gewissem Sinne ein Va-banque-Spiel. Vor allem, wenn sie nicht verbunden ist mit einer Re-Regulierung. Denn ein marktorientiertes System braucht mehr Regeln als ein Monopol-System. Die erste EU-Direktive von 1997 hat den Markt geöffnet, fast ohne Regeln vorzugeben. Die zweiten Direktive, für die ich Berichterstatter im Europaparlament war, und über die jetzt eine Einigung erzielt wurde, stellt den Versuch dar, zu regulieren. Zum Beispiel wurde die Rolle der nationalen Regulierungsbehörden verstärkt.

Es wird angeführt, Investitionen in neue Leitungen seien in den USA wirtschaftlich uninteressant. Wie sieht das in der EU aus?

Aufgrund des Drucks des Parlaments wurde eine diesbezügliche Regelung in die Direktive aufgenommen. Die Regulationsbehörden, die die Stromdurchleitungstarife festlegen, müssen genug finanziellen Spielraum lassen für Investitionen in die Netzinfrastruktur. Sie können Netzbetreiber auch dazu zwingen, bestimmte Investitionen vorzunehmen.

Meine persönliche Meinung ist, dass Netze in öffentlichem Besitz sein sollten. Das Risiko, dass Privatfirmen jahrelang herumwursteln bis es am Ende knallt, ist zu groß. Bei der Umsetzung der Direktive in Luxemburg müssen wir sicherstellen, dass die Netze im Besitz der Gemeinden und der Cegedel bleiben und nicht an Großkonzerne verkauft werden können.

Die Liberalisierung ist ein Va-banque- Spiel. Wichtig ist eine Re-Regulierung. Ein marktorientiertes System braucht mehr Regeln als ein Monopol- System.

Es gibt auch Stimmen, die meinen, die Deregulierung in den USA sei nicht weit genug gegangen. Die Reste der alten Monopole in den Bundesstaaten sträubten sich gegen mehr Verbindungsleitungen.

Gut organisierte Verbindungen und schneller Informationsaustausch zwischen Netzbetrieben sind wichtig. In Europa hat es bereits vor der Liberalisierung eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Staaten gegeben. Per Vertrag ist geregelt, wer wo im Notfall einspringt. Richtig ist auch, dass wenn schon auf Marktmechanismen zurückgegriffen wird, das auch konsequent getan werden sollte. So gehören die wirtschaftlichen Akteure für Stromerzeugung, Netzverwaltung und Stromverkauf voneinander getrennt. Alles andere führt zu Wettbewerbsverzerrungen, zum Beispiel weil Stromproduzenten, die gleichzeitig im Besitz des Netzes sind, versuchen, konkurrierenden Erzeugern den Zugang zu erschweren.

Es heißt auch, schuld am Mangel an Leitungen und Erzeugungskapazitäten seien die Nimbys und die UmweltschützerInnen, die weder Strommasten noch AKW wollten.

Das Problem vergangene Woche war nicht, dass es nicht genug Kraftwerke gab. Die Stromerzeugungskapazität war nur zu 70 Prozent ausgelastet. Und am Vorwurf, es gebe nicht genug Leitungen, hängt die Frage nach der Organisation des Stromsystems, auch für die EU: Wollen wir unbedingt ein System mit einer kleinen Zahl von Großkraftwerken, mit viel Handel und vielen Hochspannungsleitungen? Das ist ökologisch ungünstig und seiner Natur nach unstabiler. An dem Tag, wo in der EU große Strommassen zwischen Schweden und Griechenland hin und her gehandelt und geleitet werden, bekommen wir ähnliche Probleme wie die USA.

Wenn es gesellschaftlich nicht durchsetzbar ist, ein dichtes Netz von Hochspannungsleitungen anzulegen, warum nicht die Alternative einer dezentrale Versorgung wählen, die sowieso unter ökologischen Gesichtspunkten wünschenswert ist? Man sollte viele kleine und mittelgroße, dezentrale Produktionsanlagen dort errichten, wo der Strom verbraucht wird. Ein liberalisiertes System kann in die eine oder andere Richtung orientiert werden.

Warum überhaupt liberalisieren, wenn das System in Europa noch relativ dezentral ist? Wäre eine öffentliche Planung für einen auf Langfristigkeit ausgerichteten Wirtschaftssektor nicht sinnvoller?

In den USA haben wir eine fatale Mischung: Konzentration auf Großkraftwerke und Fehlen von Regeln und Mechanismen der Zusammenarbeit. Doch es wäre ein Irrtum anzunehmen, monopolistische Systeme seien automatisch besser, wie man am zentralisierte System Frankreichs sieht.

Auf der anderen Seite können Marktmechanismen durchaus zu einem dezentralen Stromsystem führen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Gewiss, eine liberalisierte Stromwirtschaft macht die Planung schwierig. Doch staatliche Monopole schützen auch nicht vor Fehlplanungen, wie das Beispiel des „tout nucléaire“ zeigt. Zusätzlich zu den Marktmechanismen braucht es einen gesetzlichen Rahmen, der gezielt eine dezentrale Stromerzeugung fördert.

Den Initiatoren der EU-Stromliberalisierung schwebte vor, von den regionalen Vorteilen bei der Stromerzeugung, zum Beispiel Wasserkraftpotenzialen, zu profitieren. Warum sollte man im Zeitalter der Globalisierung eine dezentrale, fast autarke Stromversorgung anstreben?

Dezentralisierung ist keineswegs altmodisch. Ähnlich wie bei der Datenverarbeitung die Entwicklung vom Mainframe zum Tisch-PC ging, eröffnen die neuen Technologien zur Stromerzeugung andere Möglichkeiten als noch vor ein paar Jahrzehnten. Mikroturbinen, Brennstoffzellen und Fotovoltaikanlagen ermöglichen eine dezentrale Produktion. In der EU müssen jetzt die Weichen gestellt werden – in den kommenden 15 Jahren wird fast die Hälfte der europäischen Stromerzeugungsanlagen ersetzt.

Wenn das Ziel der EU-Liberalisierung ist, den Strom kurzfristig möglichst billig zu machen, dann wird es ein böses Erwachen geben.

Durch die Liberalisierung sollte doch vor allem, dank Vernetzung und Konkurrenz, der Strom billiger und die EU-Wirtschaft wettbewerbsfähiger werden.

Ein liberalisiertes System benötigt Kostenwahrheit. Mit kleinen, umweltfreundlichen, dezentralen Anlagen erparen wir uns die Rieseninvestitionen in Hochspannungsleitungen. Wenn die Öffnung des EU-Strommarktes dazu führen soll, dass der Strom kurzfristig möglichst billig wird, wie unter anderem die Großindustrie das möchte, dann wird es ein böses Erwachen geben.

Werden die Stromkonzerne, die noch immer das Gros des EU-Strommarktes kontrollieren, sich nicht dem Ziel der Errichtung eines dezentralen Systems widersetzen?

Das hängt von den politischen Entscheidungen ab. Der gesetzliche Rahmen der Liberalisierung kann so gesetzt werden, dass die großen Akteure quasi gezwungen werden, dezentral zu bauen. Die Konzerne sehen das natürlich nicht gerne. In Deutschland haben die Großfirmen in den vergangenen fünf Jahren sechs Prozent Marktanteil an mittelständische Produzenten verloren, weil letztere massiv in erneuerbare Energien investiert haben. Die große Gefahr bleibt, dass am Ende der Liberalisierung statt Monopolen Oligopole stehen.

Wird die zweite EU-Direktive diese Entwicklung verhindern können?

Der Text geht weniger weit, als ich mir gewünscht hätte. Als Berichterstatter hatte Ich vorgeschlagen, Erzeugung, Durchleitung und Verkauf von Strom streng zu trennen, was die Großkonzerne jeweils aufgespaltet hätte. Ausgenommen werden sollten die kleineren Stromfirmen mit bis zu 200.000 Kunden. Immerhin wurde ein Passus in den Text aufgenommen, dass dezentrale Produktionsanlagen einen Bonus angerechnet bekommen für die Kosten, die sie dem System ersparen, weil weniger Leitungen benötig werden.

Man wird darauf achten müssen, was bei der Umsetzung in nationales Recht mit den für die Konzerne unangenehmen Bestimmungen passiert. Schlimmstenfalls wird man sie vor Gericht einklagen müssen.

Um auf die Abwendung von Stromausfällen, also die Stabilität der Versorgung zurückzukommen: Welche Vorgaben macht die Direktive in diesem Bereich?

Da ist kaum etwas vorgesehen. Ich habe während der Verhandlungen über den Text versucht, dieses Risiko zu thematisieren. Doch Jahrzehnte lang hat es in Europa keine massiven Stromausfälle mehr gegeben, zwei wichtige Vorschläge in Sachen Versorgungsstabilität sind auf der Strecke geblieben. Die Ereignisse in den USA, und, in einem geringeren Ausmaß, in Italien, sollten ein Grund sein, die Direktive nachzubessern: Man sollte Reservekapazitäten vorschreiben und Maßnahmen zum Stromsparen zu ergreifen.

Zum Beispiel war einer der Auslöser der Versorgungsprobleme in Italien und Frankreich diesen Sommer, dass binnen Wochen Zehntausende neuer Klimaanlagen ans Netz gegangen sind. Weil es keine EU-Standards für Klimaanlagen gibt, sind darunter viele ineffiziente Produkte mit hohem Verbrauch. Ökonomisch wie ökologisch ist es absurd, immer mehr Strom zu erzeugen und durchzuleiten, wenn wir eigentlich mit bescheidenem Aufwand den Verbrauch stabilisieren könnten.

(Interview: Raymond Klein, 19.8.03)


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