ESCH: Die Armut im Süden

Der Sozialbericht der Gemeinde Esch zeigt: In der Minette-Metropole gibt es mehr Arbeitslose und RMG-Empfänger als im luxemburgischen Landesdurchschnitt. Die „Momentaufnahme“ soll als Basis für konkrete Maßnahmen dienen.

Esch la Rouge …

Frau C. lebt mit ihren drei Kindern – neun, sieben und vier Jahre alt – in Esch. Die 27-jährige Portugiesin ist arbeitslos. Nach Luxemburg kam sie vor einigen Jahren zusammen mit ihrem Mann. Nachdem dieser mehrfach gewalttätig ihr gegenüber geworden war, floh sie vor ihm ins Frauenhaus.

Dort wohnt sie mittlerweile seit acht Monaten. Ihren Job in einem chinesischen Restaurant musste sie aufgeben, weil sie niemand für die Betreuung für ihrer Kinder fand. Nun lebt sie vom RMG, denn eine neue Arbeit hat sie bislang noch nicht gefunden: „Die Leute wissen doch, was hinter meiner Adresse steckt. Wenn ich die angeben, nehmen sie mich nicht“, erklärt Frau C., die neben Portugiesisch nur gebrochen Französisch spricht.

Die Portugiesin ist eine von 30 sozial benachteiligten Personen aus der Minette-Metropole, die über ihre Lebenssituation interviewt wurden. Frau C. ist kein Einzelfall. Ihre Situation spiegelt vielmehr einen Teil der sozialen Realität in Luxemburgs zweitgrößter Kommune wieder.

Novum in Luxemburg

Ein hoher Ausländeranteil, mehr Arbeitslose als im Landesdurchschnitt, ein niedriges Bildungsniveau und eine große Zahl allein lebender Menschen – das sind die Hauptmerkmale der Bewohnerstruktur Eschs. Das ergab der erste Sozialbericht für die Gemeinde. Mit der Studie hat die Stadt Neuland beschritten, denn sie ist die erste ihrer Art in Luxemburg. Am Dienstag wurde sie der Presse vorgestellt.

Die Gemeinde hatte sich im Jahr 2001 entschlossen, die soziale Situation in Esch kontinuierlich zu beobachten, und beauftragte die Unité de recherche interdisciplinaire (Stade) des Centre Universitaire de Luxembourg und die Forschungsstelle für regionale Sozialforschung (Foreg) in Trier damit. Erstere analysierte die soziologischen Eigenschaften der Escher Bevölkerung im Landesvergleich, während der Trierer Sozialforscher Manfred Schenk die soziale Infrastruktur und Lebensqualität in Esch aus Sicht von „BürgerInnen in benachteiligten Lebenslagen“ untersuchte. Am Ende von zwei Jahren Recherche und Analyse standen zwei Dokumentordner, die eine Art „Sozialatlas“ von Esch ergeben.

Laut Stade-Studie sind 44,5 Prozent der EinwohnerInnen der Stadt Nicht-LuxemburgerInnen. Damit ist der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung höher als im Landesdurchschnitt (37 Prozent): 23,7 Prozent sind PortugiesInnen, sechs Prozent ItalienerInnen, 4,6 Prozent kommen aus Frankreich und 4,5 Prozent aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Jung und arbeitslos

Auffallend ist der im Landesvergleich überdurchschnittlich hohe Prozentsatz an ArbeiterInnen (59,1 Prozent der Männer und 45,2 Prozent der Frauen) in der Industriestadt. Und auch die Arbeitslosenquote ist mit sechs Prozent fast doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Am stärksten von der Arbeitslosigkeit sind die ImmigrantInnen betroffen. Darüber hinaus ist die Jugendarbeitslosigkeit enorm hoch: Mehr als ein Fünftel der 15- bis 19-Jährigen ist ohne Job.

Letzteres dürfte vor allem auf das geringe Bildungsniveau in Esch zurückzuführen sein. Etwa 45 Prozent der EinwohnerInnen haben nur die Primärschule besucht (Landesdurchschnitt: 30,3 Prozent); dagegen haben nur 8,5 Prozent der EscherInnen zwischen 25 und 29 Jahren einen Hochschulabschluss, ungefähr halb so viel wie im gesamten Großherzogtum.

Während in Luxemburg insgesamt 1,6 Prozent der Bevölkerung das gesetzlich garantierte Mindesteinkommen empfangen, sind es in der Minettestadt vier Prozent. Außerdem lebt etwa jedeR dritte EinwohnerIn allein. Dazu gehört zum Beispiel auch eine 70-jährige Frau, die im Zuge der Befragung der BürgerInnen in prekären Lebenslagen Auskunft über ihre Situation gab: Die Witwe und ehemalige Haushaltshilfe lebt vom RMG. Sie wird nach mehreren Psychiatrieaufenthalten medikamentös behandelt und ist gehbehindert. Ihre Sozialwohnung befindet sich aber im vierten Stock und verfügt über keinen Aufzug. Die Frau ist isoliert, besitzt keinerlei soziale Kontakte mehr. „Ich bin krank und habe mich zurückgezogen“, sagte sie zu der Interviewerin.

An der Grenze der Kapazität

Die sozialen Probleme sind nicht auf ganz Esch gleichmäßig verteilt. Vielmehr gibt es ein Nord-Süd-Gefälle: Die besser gestellten Bevölkerungsschichten lebten vorwiegend im Norden, so die Statistikerin Isabelle Pigeron-Piroth vom Centre Universitaire, die Ärmeren in den südlichen Arbeitervierteln „Grenz“ und „Brill“. Dort sind auch die meisten ImmigrantInnen sesshaft; in manchen Straßen beläuft sich der Ausländeranteil auf 80 bis 90 Prozent. Denn gerade die AusländerInnen machen einen Großteil der ärmeren Bevölkerungsschicht aus.

Zwar ist die Stadt überdurchschnittlich gut mit sozialen Angeboten ausgestattet. Sie verfüge über eine „außerordentliche Breite der sozialen Dienstleistungen“, heißt es in dem Sozialbericht. Die etwa 100 Einrichtungen seien jedoch nur ungenügend miteinander vernetzt. Einige sind zudem überlastet und können den Bedarf nicht decken, so dass es bei etwa der Hälfte der Einrichtungen zu längeren Wartelisten kommt – unter anderem im Bereich der Kinderbetreuung. Die Untersuchung habe ergeben, dass ein großes Manko an räumlichen und persönlichen Möglichkeiten der sozialen Einrichtungen besteht. Viele seien an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt. Die Hilfsangebote seien außerdem zu sehr spezialisiert. Präventive und konfliktlösende Schulsozialarbeit fände sich derzeit nicht.

Derweil wird die Stadt nicht dem hohen Ausländeranteil gerecht, da es keine ausreichend spezialisierte Angebote für ImmigrantInnen gibt. Diese sind in den meisten sozialen Einrichtungen unterrepräsentiert: bei den medizinisch-sozialen Diensten für Kleinkinder ebenso wie bei der Tagesbetreuung für SchülerInnen. Des weiteren gebe es auch strukturelle Defizite beim betreuten Wohnen für SeniorInnen. Nicht zuletzt seien viele sozialen Einrichtungen in Esch nicht behindertengerecht gestaltet.

Außerdem arbeiteten die Dienste noch nach dem Muster der Einzelfallhilfe, so der Sozialforscher Manfred Schenk. „Für die Zusammenarbeit zwischen den Diensten sowie die Abstimmung zwischen den Zielgruppen und Aufgabenstellungen müssen noch Konzepte und Strukturen gefunden werden“, erklärt Schenk und fügt hinzu: „Die vorhandenen Ansätze mit der Assises Sociales – die am Samstag zum dritten Mal stattfinden werden – gehen in diese Richtung. Der neue Sozialplaner der Gemeinde könnte dieses Anliegen forcieren.“

„Sozialatlas“ als Basis für Maßnahmen

Nach den Worten des Escher Sozialschöffen André Hoffmann soll die Studie kein einmaliges Dokument sein, sondern kontinuierlich aktualisiert werden. Und sie soll die soziale Entwicklung der Stadt beeinflussen. Die „Momentaufnahme“ bilde eine „Basis zu weiteren Maßnahmen“, betonte der Projektleiter Fernand Fehlen vom Centre Universitaire.

Der „Sozialatlas“ diene, so Hoffmann, nicht nur als Ergänzung des jährlichen Wirtschaftsberichts, sondern auch als politisches Steuerungsinstrument zur Reduzierung sozialer Ungleichheiten. Zudem liefere er wertvolle Informationen bei der Umgestaltung von Stadtteilen. Damit werde kein Selbstzweck verfolgt, sondern nicht zuletzt auch versucht, AusländerInnen in der multikulturellen Stadt besser zu integrieren und deren Abrutschen in die Isolation zu verhindern. Allerdings, gibt Hoffmann zu bedenken, könnten die sozialen Probleme nicht allein auf kommunaler Ebene gelöst werden. Deshalb soll eine Arbeitsgruppe den Bedarf der Sozialplanung analysieren, heißt es im Sozialbericht, und prüfen, „für welche Fragen die Gemeinde zuständig ist.“

Derweil haben viele der so genannten „Bürger in sozial benachteiligten Lebenslagen“ längst resigniert und bemühen sich nicht mehr um eine Lösung ihrer Probleme. Als Gründe werden in der Studie bei Frauen mit Kindern die Unvereinbarkeit mit der Erziehung, bei AusländerInnen die Sprachprobleme und bei Jugendlichen vor allem fehlende Qualifikationen oder Suchtprobleme genannt. Manfred Schenk weist in seiner Studie darauf hin, dass den meisten Interviewten intensiver geholfen werden müsste. Eine stärkere KLientenorientierung sei nötig. Denn „trotz finanzieller Abfederung durch das Sozialsystem gibt es Armut.“ Die bürokratische Betreuung durch ein Amt reiche oftmals nicht aus – auch nicht, um beispielsweise Frau C. zu helfen, damit sie aus dem Teufelskreis „ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit“ herauskommt.


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