EUROPÄISCHE GESCHICHTEN: Schweizer Integrationsmärchen

Mit ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ hat Melinda Nadj Abonji den Deutschen Buchpreis gewonnen. Mag sein, dass der Preis auch als Antwort auf Thilo Sarrazin zu verstehen ist. Vor allem jedoch zeichnet er eine Autorin aus, ohne deren Arbeit die zeitgenössische deutschsprachige Literaturlandschaft trostloser wäre.

„Nation“ ist nicht für alle da: Blumeninstallation im Rahmen des Projekts „Ja zur Integration – Nein zur Assimilation!“ im Jahr 2007.

„Tauben fliegen auf“, der neue Roman von Melinda Nadj Abonji, beginnt mit dem Kapitel „Titos Sommer“ – einer Urlaubsfahrt in die Vojvodina. Wie durch einen Sog wird der Leser in das Geschehen hineingezogen. Wir fahren in einem langen braunen Chevrolet mit Ildiko und ihrer Familie in den Sommerurlaub in ihre Heimat, eine serbische Provinz, in der eine ungarischsprachige Minderheit wohnt, wo Ildiko und ihre Schwester Nomi eine unbeschwerte Kindheit verbrachten. Die Erinnerungen der beiden werden sich durch den gesamten Roman ziehen. Ein Hauch Nostalgie schwingt mit, ein orange-rotes Flimmern, wie auf alten vergilbten Urlaubsfotos, wenn Ich-Erzählerin ?Ildi‘ von Mamika, dem Taubenzüchter Béla, schnatternden Gänsen, prall gefüllten Palatschinken und Traubisoda-Limonade berichtet. In den Siebzigerjahren wandert Familie Kocsis gemeinsam mit ihren Töchtern in die Schweiz aus, wo sie sich „erfolgreich“ hocharbeitet, zunächst eine Wäscherei betreibt, später ihr eigenes Cafe, das Mondial. Die Schwestern unterstützen den Familienbetrieb, helfen im Cafe aus.

Durch die wachen Schilderungen Ildis wird der gewöhnliche Rassismus der Schweizer bürgerlichen Mitte greifbar, wenn Ildiko von Gesprächen und belehrenden Kommentaren der Café-Stammgäste berichtet, von den Vorurteilen gegenüber „den Serben“, die sich „auf dem Balkan die Köpfe einschlagen“ oder dem „homo balcanicus, der die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht habe“. Oder von Mladic` und Milo?evic`, die schnell in einem Topf landen und „schlimmer als echte Nazis“ sein sollen. Den intensiven Bemühungen um Integration zum Trotz werden die Wände der Cafétoilette eines Tages mit Fäkalien beschmiert und Ildi gelangt beim Säubern zu der Erkenntnis, dass es eben jene „ganz normalen Schweizer“ waren, „kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak, sondern ein kultivierter Mensch“.

Der Roman gebe das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europas im Aufbruch wieder, das mit der Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen habe, lautet die Begründung der siebenköpfigen Jury, die Melinda Abonji Nadj für „Tauben fliegen auf“ den Deutschen Buchpreis verlieh. Denn auch schmerzhafte Erinnerungen an die Balkankriege der Neunzigerjahre lässt die Autorin fast beiläufig in ihren Roman einfließen – Eindrücke, die ihre Familie in der Schweiz, wo es sich wie im „Zuschauerraum“ lebt, fortan belasten werden.

„Und Vater lässt den Korken der Champagnerflasche knallen, mit einem Koffer und einem Wort sind wir in die Schweiz gekommen, und jetzt haben wir einen roten Pass mit einem Kreuz und eine Goldgrube, Isten, Isten! Gott Gott!, ruft Vater, und wir stossen an, klirrend, herzlich.“

Es sind verzerrte düstere Bilder, Versatzstücke aus Gehörtem, Zeitungsartikeln, Telefonaten mit Verwandten, die düster über dem Alltag der Familie Kocsis hängen und Ildis „schöne“ Kindheitserinnerungen überlagern.

Die Autorin richtet ihr Augenmerk jedoch auf die Geschichte der eingewanderten Familie in der Schweiz. Ein Wandeln auf dem schmalen Grat der Assimilation, bestimmt davon, sich täglich aufs Neue beweisen zu müssen. Es sind intime Einblicke in ihr Innenleben, den die kluge Ich-Erzählerin dem Leser gewährt, geschrieben in einer dichten, atemlos wirkenden Sprache. „Sauberer und fleißiger zu sein, als die anderen“, ist das internalisierte Credo ihrer Eltern. Deren Aufstiegswille manifestiert sich darin, Tag um Tag zu beweisen, dass man es verdient habe, in diesem Land aufgenommen zu werden. Die einzige Chance sei es, sich hochzuarbeiten, gesteht Ildis Mutter ihrer Tochter: „Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, wir müssen es uns erst noch erarbeiten“, heißt es. Bei den Töchtern, die sich von Anbeginn in ihrer neuen Heimat wohlfühlen und problemlos die Sprache erlernen, führt dies schnell zu Auflehnung. Am Ende wird die Ich-Erzählerin dem Familienbetrieb den Rücken zukehren und ihren eigenen Weg gehen: „Ich, die explodieren will, ich will gegen uns sein, gegen unseren Fleiß, unser andauerndes Bemühen, noch besser zu werden“.

Trotzdem zeichnet die Erzählerin ihre Eltern nie abschätzig, sondern liebevoll mit einem Augenzwinkern aus einer wohlwollend kritischen Dis-tanz. Sie berichtet etwa davon, wie die Familie im Sommer 1987 nach der Arbeit gemeinsam Staatskunde paukt und die Kinder die Eltern zu Bundesräten, dem Parlament oder der direkten Demokratie abfragen, damit sie den Einbürgerungstest bestehen. „Vater, der ?Demokratie‘ so aussprach, als wäre sie eine schöne, elegante Dame, aber keine Staatsform, wenn einem etwas wichtig ist, dann muss es schön klingen.“ Es sind diese kleinen Anekdoten der ältesten Tochter Ildi, die den Roman kennzeichnen und zu einer bilderbuchartigen Integrationsgeschichte machen, wie sie sich viele Zeit-Leser aus dem bildungsbürgerlichen Milieu wohl wünschen. Denn das ganze Buch liest sich auf eine bequeme Art wie ein Märchen. Die Doppeldeutigkeit der Taubenmetapher, zwischen harmlos-friedlich, aufgescheucht bis hin zu einer „fliegenden Ratte“, steht symbolisch für das Zerrissensein zwischen zwei Welten. Wie eine Taube pickt Ildi nach einer durchzechten Nacht am Bahnhof am Boden herum; Tauben sind aber auch ein Symbol der Heimat: Da ist der Taubenzüchter Béla, der eines Tages von Soldaten abgeholt und erschossen wird.

Der Buchpreis für „Tauben fliegen auf“ wurde in den deutschen Medien fast einhellig als Antwort auf Thilo Sarrazins Hetzschrift „Deutschland schafft sich selbst ab“ gewertet. Die diesjährige Entscheidung der Jury ist aber auch deshalb erstaunlich, weil Melinda Abonji Nadj keine deutsch-deutsche Geschichte erzählt, wie etwa Uwe Tellkamps „Der Turm“ oder Julia Francks „Die Mittagsfrau“, sondern eine Geschichte „aus der Mitte Europas“ wie sie auch in einem deutschen Provinznest vorstellbar wäre. Nadj Abonjis Prosa erinnert an ähnlich nüchterne und erfrischende Stimmen junger, aus Osteuropa stammender Nachwuchs-Autorinnen, wie Jagoda Marinic, Sibylle Lewitscharoff oder Terézia Mora. Ohne die Romane dieser Schriftstellerinnen wäre die zeitgenössische deutschsprachige Literaturlandschaft mit Sicherheit trostloser. Schade ist, dass sich mit dem Roman eine begabte serbische Autorin zu Wort meldet, die den Kosovo-Krieg zwar anspricht, jedoch keine politischen Zusammenhänge erklärt, ja sich sogar bewusst jedem politischen Statement entzieht.

Melinda Nadj Abonji – Tauben fliegen auf. Verlag Jung und Jung, 320 Seiten.


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