KANNERHEEMER: Villa Kunterbunt

Mit dem Haus „An der Le’h“ wurde diese Woche eine weitere Einrichtung der staatlichen Kinderheime eingeweiht. Über dem Ausbau der stationären Betreuung darf aber die ambulante nicht vergessen werden.

„Es ist absolut notwendig, dass Kinder und Jugendliche an der Erarbeitung ihrer Lebensziele mitwirken“, mahnte Familienministerin Marie-Josée Jacobs anlässlich der Eröffnung des Centre thérapeutique de jour „An der Le’h“ in Dudelange. Die neue Einrichtung gehört zu den staatlichen Kinderheimen und bietet in einer Tagesstätte für acht Kinder von sechs bis zwölf Jahren eine zusätzliche psychotherapeutische Betreuung. Dabei soll für jedes Kind von einem pluridisziplinären Team ein pädagogisches und psychotherapeutisches Programm erstellt werden.

Mitwirken und Mitreden konnten Kinder und Jugendliche in den Kinderheimen lange nicht. Entscheidungen wurden über ihre Köpfe hinweg getroffen. Heime waren Orte institutioneller, physischer und sexueller Gewalt. Mit der „Villa Kunterbunt“, wie sie die schwedische Autorin Astrid Lindgren erfunden hatte und der mutigen Halbwaisen Pippi Langstrumpf, die zu Hause tun und lassen konnte, was sie wollte, hatte die Wirklichkeit wenig gemein.

Die ersten staatlichen Kinderheime entstanden in Luxemburg Mitte des 19. Jahrhunderts als Vorkehrung gegen die Folgen der verbreiteten extremen Armut. Das „Hospice Central“, in dem Bettelkinder, behinderte Kinder und Waisen untergebracht wurden, hatte seinen Standort in Ettelbrück – genau wie das Hôpital Neuropsychiatrique. Eine parlamentarische Untersuchungskommission, die die Lebensbedingungen der Bewohner untersuchte, erreichte, dass ab 1884 rund 80 Kinder und alte Menschen von Ettelbrück ins Centre du Rham nach Luxemburg Stadt verlegt wurden. Hier befanden sich ein Waisenhaus, ein Krankenhaus und ein Altersheim. Zuständig für den ganzen Komplex waren die Schwestern der Kongregation der Heiligen Elisabeth. Da es damals noch kein Kinder- und Jugendschutzgesetz gab, lag die Entscheidung darüber, wann ein Kind im Centre de Rham aufzunehmen sei, bei den Gemeinden und staatlichen Behörden. Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde eine Dezentralisierung in die Wege geleitet, um Kinder aus dem überfüllten Centre du Rham auf kleinere Strukturen aufzuteilen: Das Schloss von Munsbach wurde zur ersten Zweigstelle, weitere folgten. Dennoch lebten im Hospice du Rham weiterhin alte Menschen und Kinder zusammen, bis diese Institution 1981 endgültig ihre Tore schloss.

Heute bestehen die staatlichen Kinderheime aus vielen einzelnen Häusern mit Tag- und Nachtunterbringung, Zwar ist der primäre Fürsorgegedanke nun durch das Partizipationsprinzip ergänzt worden, doch gibt es immer noch viel zu tun.

Die hauptsächliche Ursache der Heimunterbringung ist heute nicht mehr die Armut, sondern Eltern, denen es nicht mehr gelingt ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern zu erfüllen – etwa infolge von Drogenabhängigkeit. Schulschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten und manchmal auch eine Tendenz zur Straffälligkeit können Anzeichen einer aus solchen Gegebenheiten entstandenen Notlage des Kindes sein. Manche Kinder haben Schwierigkeiten im psychologischen und/oder sozialen Bereich, die sich insbesondere in der Intensität ihrer Verhaltensauffälligkeiten und Beziehungsstörungen widerspiegeln. Ins Heim eingewiesen werden die Kinder jedoch erst aufgrund einer gerichtlichen Verordnung, oder wenn der Sozialdienst eine zeitweilige Herauslösung des Kindes aus der Familie empfiehlt und die Eltern damit einverstanden sind. Und es gibt Situa-tionen unmittelbarer Gefährdung von Kindern, in denen die Justiz eingreift. In Luxemburg wurden bisher rund 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Heimen durch den Jugendschutz und aufgrund einer gerichtlichen Anordnung eingewiesen.

Kein genormter Bürger

„Wir haben heute rund 75 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 2 und 20 Jahren, die in den staatlichen Kinderheimen untergebracht sind“, erklärt René Schmit, der seine berufliche Laufbahn 1984 als Psychologe begonnen hat und seit 2003 Leiter der staatlichen Kinderheime ist. Es existieren rund drei Typen von Häusern, die jeweils bis zu zehn Kindern beherbergen: Das „Relais Maertenshaus“ für Kleinkinder von zwei bis sechs Jahren, eine Reihe von Heimen für Kinder im Schulalter ab vier bis 16 Jahren und Häuser für Jugendliche ab etwa 12 Jahren. Eines dieser letzteren ist die „Jugendgrupp“ Dieses Heim bietet vor allem Jugendlichen, die über eine längere Zeit nicht nach Hause können, eine Bleibe. „Die Statistiken zeigen, dass, wenn ein Kind mehr als vier Jahre im Heim bleibt, die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass es je wieder nach Hause zurück kann“, so Schmit. Für viele dieser Langfristigen ist es schwer, mit Jüngeren oder wechselnden Bewohnern zusammen zu sein. Eine weitere Variante in diesem abgestuften System der Unterbringung und Betreuung wird durch die „Jugendpensioun“ repräsentiert, die für Jugendliche ab 18 Jahren bestimmt ist. Sie bietet jungen Erwachsenen, die keinen Rückhalt in der Familie haben und häufig mitten in der Ausbildung stehen, einzelne Wohnungen an. Betreut werden die Kinder und Jugendlichen während ihres gesamten Aufenthalts von einem durch einen fachlichen Beirat (Equipe médico-psycho-pédagogique et sociale) unterstützten pluridisziplinären Team.

„Die Struktur der Heime wurde über die Jahre konstant weiterentwickelt. Hier schreibt sich auch das Projekt der neuen Tagesstruktur ,An der Le’h‘ ein“, erklärt der Heimleiter. Lange fehlte es an inhaltlichen Richtlinien. In der Vergangenheit wurde der Erziehungsauftrag meist an andere Institutionen delegiert. „Der Staat hat sich bis heute wenig um eine konzeptuelle Ausrichtung der Kinderheime bemüht“, kritisiert Schmit. Erst das Gesetz vom 16. Dezember 2008 „relative à l’aide à l’enfance et à la famille“ habe minimale Qualitätsstandards verbindlich gemacht. Im Gegensatz zur traditionellen Heimerziehung gehe es heute weniger darum, Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld herauszunehmen und in ein anderes zu verpflanzen, als vielmehr um eine Art Stabübergabe wie beim Staffellauf, bei dem die Heime die Aufgaben an dem Punkt übernehmen, an dem die Familien sie alleine nicht mehr bewältigen. Dabei gehe es jedoch nicht darum, den genormten Bürger zu produzieren. „Jedes Kind hat das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen, auch wenn er manchmal unbequem ist“, erläutert Schmit das Konzept seiner Heime.

Das ist nicht einfach. Denn die Heimerziehung wird oft gerade dafür kritisiert, dass sie letztlich „heim-angepasste“ Kinder hervorbringe, die das Erlernte in ihren Familien nicht umsetzen können. Oft wird das Problem auch ausschließlich beim Kind oder dem Jugendlichen gesehen. Diese werden zu „Symptomträgern“ gemacht; nötig wäre aber, die gesamte Familie in ihrem Wirkungszusammenhang zu betrachten.

„Die Eltern müssen mit einbezogen werden. Wir versuchen, sie auf eine Schiene zu setzen, wo sie in ihrer Funktion als Mutter oder Vater eine klare Position beziehen müssen“, meint Schmit. Eine Trennung zwischen Kind und Eltern durch eine Heimeinweisung mache nur Sinn, wenn die Distanzierung beiden helfe. „In den 60er Jahren war es noch so, dass einmal im Monat Besuchszeit war, davon sind wir weit entfernt.“ Die Besuchszeiten sind je nach Fall verschieden. Einige Kinder gehen jedes Wochenende nach Hause, andere seltener. „Wir haben auch eine Reihe von Familien, die so destrukturiert sind, dass wir begleitete Besuche anbieten“, sagt Schmit. Daneben werde auch die psychologische Betreuung mit den Eltern systematisch angegangen. „Viele Eltern fragen nach Hilfe. Schwierig ist es nur dort, wo Eltern eine richterliche Entscheidung nicht anerkennen.“

Bruch mit den Eltern

Eine Heimeinweisung kann allerdings auch einen Bruch zwischen Eltern und Kind bedeuten – besonders, wenn sie von längerer Dauer ist. Als ehemalige Leiterin der hauptstädtischen „Fondation Maison de la Porte ouverte“ weiß die Ombudsfra fir d’Rechter vum Kand, Marie-Anne Rodesch-Hengesch, dass eine Einweisung in ein Heim nicht immer abwendbar ist – doch sollte sie stets nur das äußerste Mittel sein. „Ich bin prinzipiell dafür, dass so viel wie möglich in der Familie selbst gearbeitet wird, dass die Familien eine Unterstützung erhalten“, urteilt die Ombudsfra. Und: „Die Eltern sollten nicht aus der Verantwortung entlassen werden“. Wichtig sei deshalb, dass das neue Jugendschutzgesetz, das noch in Ausarbeitung ist, vorsieht, dass Eltern frühestens nach einem Jahr beim Jugendrichter eine Revision der richterlichen Unterbringung im Heim erwirken können, so dass ihr Kind eventuell schon früher nach Hause kann. Denn die durchschnittliche Verweildauer in den Kinderheimen ist lang: rund 75 Prozent der Kinder bleiben zwei bis drei Jahre. „Die Tendenz geht dahin, dass Kinder länger bleiben, da wir vermehrt mit destrukturierten Familien zu tun haben“, konstatiert der Heimleiter. Mittlerweile seien auch alle Heime belegt. Das habe in der Vergangenheit schon zur Konsequenz gehabt, dass Kinder in die Erziehungsanstalt nach Dreiborn oder gar ins Gefängnis nach Schrassig gesteckt werden. „Hier stoßen wir an die Grenzen des Machbaren.“

Es gibt aber auch Alternativen zur Heimstruktur, zum Beispiel Pflegefamilien, die immerhin feste Bezugspersonen bieten, an denen in den Heimen, wo das Personal häufig wechselt, ein weitgehender Mangel herrscht. Leider jedoch sind Pflegefamilien in Luxemburg sehr dünn gesät. Was es gibt, sind Dienste wie „Families First“ der Croix Rouge, das „Projet d`Action en Milieu Ouvert“ der Stiftung Kannerschlass Sanem oder das „Institut Saint Joseph“ der Caritas, die punktuell in den Familien intervenieren. Eine Möglichkeit, Dienste dieser Art noch weiter auszubauen, könnte das Gesetz „relative à l’aide à l’enfance et à la famille“ bieten, da hier zumindest auf dem Papier dem Aspekt der Prävention große Bedeutung zuerkannt wird.


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