KINDESMISSBRAUCH: Der Dutroux-Effekt

Der Fall Dutroux hat den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Der Großteil der Kindesmisshandlungen spielt sich jedoch nach wie vor innerhalb
der Familien ab.

Jean-Marie Heitz ist wütend. Gemeinsam mit anderen AktivistInnen des „Weißen Komitees“ aus Bastogne wartet er vor dem Justizpalast in Arlon vergeblich darauf, in den Gerichtssaal
hineingelassen zu werden. Er möchte dabei sein, wenn dem Kinderschänder Marc Dutroux und seinen Komplizen der Prozess gemacht wird. „Da werden fünf Millionen Euro für das Verfahren und für Dutroux‘ Schutz ausgegeben – und wir dürfen nicht einmal zuschauen“, regt sich Heitz auf, während ein anderer Mitstreiter des Komitees ein Herz aus Pappe hoch hält: Darauf sind die Fotos von zwei Dutroux-Opfern geklebt.

Die so genannten Weißen Komitees treten nicht nur für die juristische Aufarbeitung des Dutroux-Falls ein. Sie haben sich vor allem auch den Schutz von Kindern vor Gewalt zur Aufgabe gemacht. Engagierte BürgerInnen hatten die Komitees in den 1990er Jahren gegründet, nachdem das Versagen der belgischen Justiz bei den Ermittlungen zu dem Fall bekannt geworden war. Ihre spektakulärste Aktion war der „Weiße Marsch“ im Oktober 1996, als mehr als 250.000 Menschen durch die Straßen Brüssels zogen. Als Reaktion auf den Dutroux-Schock hat die belgische Regierung gegen Ende der 1990er Jahre zwar verschiedene Gesetze zum Schutz von Minderjährigen auf den Weg gebracht. Doch die BelgierInnen hatten das Vertrauen in ihren Staat längst verloren. Besonders die Eltern der getöteten Kinder sahen sich von den Behörden alleingelassen.

Jean-Denis Lejeune zog daraus persönliche Konsequenzen. Der Vater der von Dutroux 1995 entführten und in einem Kellerverlies verhungerten achtjährigen Julie gründete 1998 „Child Focus“,eine Hilfsorganisation für vermisste und sexuell misshandelte Kinder. „Damit die Fehler sich nicht wiederholen, die meiner Tochter und anderen Kindern zum Verhängnis wurden“, erklärt Lejeune. Mittlerweile hat „Child Focus“ 40 fest angestellte MitarbeiterInnen und verfügt über ein Netz von 1.300 ehrenamtlichen HelferInnen. In der Brüsseler Zentrale können in einer Stunde bis zu 2.000 Plakate gedruckt werden, während ein „Case Manager“ in der jeweiligen Stadt die Suchaktion koordiniert, die betroffene Familie betreut und den Kontakt zur Polizei hält. Die Organisation – Jahresbudget: 3,3 Millionen Euro – wird zur Hälfte vom belgischen Staat bezuschusst.

„Child Focus“ ist über die Notrufnummer 110 rund um die Uhr zu erreichen. Pro Jahr gehen etwa 200.000 Anrufe ein, im vergangenen Jahr wurde 2.954 Fällen nachgegangen. Neben verschwundenen Kindern geht es um Kinderhandel und um die
sexuelle Ausbeutung von Kindern. Seit 2001 gibt es auch einen europaweiten Zusammenschluss gleichartiger Initiativen. Außer akuten Fällen widmet sich „Child Focus“ der Prävention.
So gibt es seit 2002 ein Projekt
gegen Kinderpornografie im
Internet.

„Der Fall Dutroux hat die Gesellschaft enorm für die Themen Kindesmissbrauch und Pädophilie sensibilisiert“, sagt Freddy Dewille vom „L’Observatoire citoyen“, einer Organisation, die für die lückenlose Aufklärung der Dutroux-Affäre kämpft. Dies gilt auch für Luxemburg: Sexuellen Missbrauch von Kindern hätte es zwar schon immer gegeben, seit dem Skandal in Belgien sei er jedoch verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt, meint Marie-Anne Rodesch-Hengesch, die Ombudsfrau für die Rechte der Kinder. „Die Statistiken sind aber mit Vorsicht zu genießen“, warnt Camille Weydert, Jugendschutzbeauftragter der Polizei. Manchmal werde der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs auch nur benutzt, um zum Beispiel in Scheidungsfällen dem anderen Ehepartner eins auszuwischen.

Zwischen den „grausamen Verbrechen des Psychopathen Dutroux“ und dem Großteil von Fällen sexuellen Missbrauchs unterscheidet der Psychologe Gilbert Pregno von der Fondation Kannerschlass. Die ExpertInnen sind sich bewusst: Etwa 90 Prozent der Missbrauchsfälle geschehen innerhalb der Familie. „Umso weniger dringt davon nach außen“, betont derweil Rodesch-Hengesch und fügt hinzu, dass gerade deshalb die Aufmerksamkeit von LehrerInnen und BetreuerInnen gefragt seien. Diese könnten veränderte Verhaltensweisen als erste Anzeichen eines Missbrauchs deuten. „Oft ist nur eine einzige Aussage des Kindes der entscheidende Hinweis auf einen Missbrauch“, sagt die Ombudsfrau. „Danach zieht es sich zurück.“

„Vieles wird vertuscht und bleibt im Verborgenen“, sagt auch Danielle Collée vom Mëederchershaus. „Die Familie wird immer noch – besonders in Luxemburg – heilig gesprochen.“ Dennoch werde heute wesentlich offensiver mit dem Thema umgegangen als früher. Das Mëederchershaus betreut Mädchen und junge Frauen, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind.

Zwar gibt es in Luxemburg noch andere Strukturen, an die sich Opfer sexuellen Missbrauchs wenden können. „Die reichen aber nicht aus“, meint Marie-Josée Cremer von Alupse-Dialogue, der nach eigenen Angaben ersten Anlaufstelle in Luxemburg für Missbrauchsopfer. Alupse-Dialogue ist eine von fünf Organisationen, die in der Krisenintervention arbeiten und über die Telefon-Hotline 49 58 54 zu erreichen sind.

Dem Täter in
die Augen schauen

„Ein Drittel der Kinder teilt sich mit, ein Drittel sagt es erst später und ein Drittel sagt es nie“, berichtet Gilbert Pregno. Die Angst, vom Missbrauch zu erzählen, prägt das spätere Leben. „In Frauenhäusern kamen oft Frauen zu mir, die Probleme in ihrem Sexualleben hatten“, berichtet Marie-Anne Rodesch-Hengesch. „Im Laufe der Gespräche stellte sich heraus, dass sie während ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden.“ Eine Öffnung nach außen sei deshalb ein wichtiger Schritt, meint die Ombudsfrau, ein weiterer die Gewissheit, dass der Täter vor Gericht gestellt und bestraft wird. „Dem Täter in die Augen zu schauen, wirkt befreiend.“

Das ist einer der Gründe, weshalb auch Sabine Dardenne vor Gericht gegen Marc Dutroux aussagen will. Die heute 20-Jährige war im August 1996 aus dem Kellerverlies des Kinderschänders gerettet worden – nach einem dreimonatigen Martyrium. „Dutroux muss bezahlen“, sagte sie vor dem Prozess. In Arlon fehlen dagegen die Eltern von Julie Lejeune und Mélissa Russo. „Wir wollen nicht an diesem Zirkus teilnehmen“, sagt Carine Russo gegenüber der Presse.

Auch Freddy Dewille verfolgt den Prozess kritisch. „Die Organisatoren haben schon jetzt einen Oscar verdient“, meint der Aktivist vom „Observatoire Citoyen“, der während des Dutroux-Prozesses in der Nähe des Justizpalasts ein Informationsbüro eingerichtet hat. Ein weiterer „Dutroux-Effekt“ im öffentlichen Bewusstsein wie in den 90er Jahren werde es aber wohl kaum geben.


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