IRAK: Gegen die Milizen

Auch im Nordirak wird protestiert. Dass Milizionäre auf Demonstranten schossen, hat die Bewegung radikalisiert.

In Bedrängnis: Massoud Barzani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan.

Eine Regel scheint sich dieser Tage zwischen Rabat und Teheran zu bestätigen. Dort, wo man es am wenigsten erwartet, überschlagen sich die Ereignisse. Die Proteste sind weniger spektakulär als die Revolte in Libyen, doch hat sich die Lage im Nordirak nun dramatisch zugespitzt. Galt die Region bis vor kurzem noch als äußerst stabil, in den Worten eines britischen Diplomaten gar als „Vorbild für den Nahen Osten“, stehen die beiden im Nordirak regierenden Parteien, die Kurdische Demokratische Partei (KDP) und die Patriotische Union Kurdistan (Puk), nun vor einem Debakel.

Alles begann mit einer harmlosen Spontandemonstration am 18. Februar in der Stadt Suleymaniah. Nachdem einige hundert Jugendliche, angeregt von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, gegen Korruption und den Nepotismus der kurdischen Regionalregierung auf die Straße gegangen waren, zog eine Gruppe vor das Hauptquartier der KDP und rief Slogans, die sich gegen den Parteivorsitzenden und Präsidenten der Autonomieregion, Massoud Barzani, richteten.

Dann flogen Steine, reguläre Polizei war nicht vor Ort. Offenbar als einige der jungen Männer versuchten, das Gebäude zu stürmen, schossen darin stationierte Milizionäre der Partei auf die Demonstranten. Ein 17-Jähriger starb und Dutzende wurden verletzt. Sofort wurden Forderungen laut, die Partei müsse sich entschuldigen und eine Untersuchungskommission einsetzen. Stattdessen beorderte die KDP Tausende weiterer Milizionäre in die Stadt, die strategisch wichtige Plätze besetzten. In Suleymaniah hat Barzanis Partei traditionell wenig Einfluss.

Dieser martialische Aufmarsch stieß auf erbitterten Widerstand. Tag für Tag versammelten sich Tausende, oft auch Zehntausende Demonstranten im Stadtzentrum, nicht nur, um gegen die Anwesenheit der Milizionäre zu protestieren, sondern auch, um den Rücktritt der verantwortlichen Minister und eine strikte Trennung von Partei- und Staatsbefugnissen zu fordern. Denn trotz der Zusammenlegung ihrer einst verfeindeten Verwaltungen unterhalten die KDP und die Puk weiterhin Sicherheitsdienste und Militäreinheiten, die nicht dem Innenministerium unterstellt sind und ihre Weisungen von der jeweiligen Parteiführung erhalten.

Die Lage verschärfte sich. Das Studio der einzigen unabhängigen Fernsehstation in Suleymaniah wurde verwüstet, ebenso wie Büros der oppositionellen Goran-Partei in den Städten Arbil und Dohuk. Mit der KDP sympathisierende Medien beschuldigten Goran, für die Unruhen verantwortlich zu sein. Anders als bei Demonstrationen in der Vergangenheit wurde der Protest diesmal, ähnlich wie in anderen Ländern der Region, von Jugendlichen vorangetrieben, nicht von den etablierten lokalen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen. Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, schlossen sich bekannte Künstler, Mitglieder verschiedener Organisationen und Redakteure unabhängiger Zeitungen zu Menschenketten zusammen, sie stellten sich in weißer Kleidung zwischen Milizen und Demonstranten. Vor allem dank der Initiative dieser neu gegründeten „Weißen Gruppe“ konnte in den Folgetagen eine weitere Eskalation vermieden werden.

Auch eine Sondersitzung des kurdischen Regionalparlaments, die erste dieser Art, auf der die Einsetzung einer Untersuchungskommission und der Abzug der Milizen gefordert wurden, half nicht, die Lage zu beruhigen. Denn inzwischen fordern die Demonstranten Neuwahlen und eine Absetzung der kurdischen Regionalregierung.

Galt die Region bis vor kurzem noch als äußerst stabil, stehen die beiden im Nordirak regierenden Parteien nun vor einem Debakel.

Am Freitag voriger Woche verließen die meisten Milizionäre der KDP Suleymaniah. Der Rückzug wurde als Erfolg der Demonstranten gefeiert, denen sich inzwischen auch Lehrer, Richter und selbst Kleriker angeschlossen hatten. In anderen Städten der Region gab es allerdings weitere gewalttätige Zusammenstöße, so starb ein Polizist in Halabja, mehrere Demonstranten wurden in der Kleinstadt Kalar von Milizionären erschossen. Auch in Suleymaniah kam es erneut zu Schießereien.

Die KDP scheint sich indes mehr und mehr in ihr Herrschaftsgebiet zurückzuziehen. Versuche, auch in Arbil, der Hauptstadt der Autonomieregion, zu demonstrieren, wurden offenbar unterbunden. De facto ist die Region nun wieder in zwei Teile gespalten. Die KDP übt in Arbil und Dohuk die Macht aus, wer dieser Tage Suleymaniah kontrolliert, ist weitgehend unklar. Alle Parteien reagieren nur noch auf die Ereignisse. Das gewalttätige Vorgehen gegen die Proteste hat bislang lediglich zu einer Radikalisierung geführt. Entsprechend groß ist auch die Sorge, dass in der Region Chaos oder ein neuer Bürgerkrieg ausbrechen könnte. In den Neunzigerjahren hatten die Milizen der KDP und der Puk jahrelang gegeneinander gekämpft.

Momentan ist völlig unklar, ob die kurdische Regionalregierung in ihrer derzeitigen Zusammensetzung eine Zukunft hat. Auch in anderen Teilen des Irak entlud sich inzwischen der Unmut über unfähige Gouverneure, Korruption, Nepotismus und die schlechte Versorgungslage. Wie in den kurdischen Gebieten betonten die Demonstranten, dass sie keinen „regime change“, sondern nur Reformen forderten. Aber auch in Mossul, Bagdad und anderen Städten schossen die Sicherheitskräfte und töteten mehr als 20 Menschen. Die Anwendung von tödlicher Gewalt scheint dieser Tage das sicherste Rezept zu sein, um Proteste, bei denen lediglich Reformen gefordert werden, in Revolten zu verwandeln, an deren Ende der Sturz von Regierungen stehen kann.

Thomas von der Osten-Sacken berichtete für die woxx zuletzt aus Tunis.


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