ITALIEN: Blinde Wut

In Italien bildet sich eine Front der Entrüstung gegen das Treiben von Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Die politische Konstellation, die das System Berlusconi überhaupt möglich gemacht hat, steht indes nicht zur Debatte.

Diffuse Angelegenheit: Demonstration gegen das „System Berlusconi“ im Oktober vergangenen Jahres in Rom.

Silvio Berlusconi regiert weiter. Auch nachdem vergangene Woche das Mailänder Untersuchungsgericht der Anklage der Staatsanwaltschaft stattgegeben hat und sich der italienische Ministerpräsident Anfang April aufgrund eindeutiger Beweislage in einem Schnellverfahren wegen Amtsmissbrauch und Prostitution Minderjähriger zu verantworten hat. Dass Berlusconi persönlich vor Gericht erscheint, ist unwahrscheinlich, um seine Verteidigung kümmern sich zwei Abgeordnete seiner Partei.

Die Strategie der Anwälte Niccolò Ghedini und Piero Longo zielt bisher darauf, die Zuständigkeit des Mailänder Gerichts in Frage zu stellen. Berlusconi habe in seiner Funktion als Regierungschef gehandelt, als er im Frühjahr letzten Jahres auf der Präfektur angerufen und die Freilassung der 17-jährigen Karima al-Marough angeordnet habe. Da er davon ausgegangen sei, es handele sich um eine Nichte des ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak, habe er einen diplomatischen Zwischenfall mit dem Nachbarland verhindern wollen. Aufgrund dieser Ausgangslage könne nur das so genannte Ministertribunal über ihn richten. Zur Einberufung dieses Sondergerichts bedarf es der Zustimmung des Parlaments, in dem der Angeklagte über eine ausreichende Stimmenmehrheit verfügt. Gezwungen, zu dieser offensichtlich lächerlichen Begründung Stellung zu nehmen, verwies die Staatsanwaltschaft Mailand auf den Amtsweg: der Ministerpräsident hätte in diesem Fall seinen Innenminister und die diplomatischen Vertretungen Ägyptens in Italien benachrichtigen müssen. Die Erwägung der Anwälte, dennoch die Zuständigkeit des Gerichts vom Verfassungsgericht prüfen zu lassen, scheint wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Das Oberste Gericht ließ bereits verlauten, nur im Konfliktfall zwischen Verfassungsorganen urteilen zu können, während die aufgeworfene Streitfrage vom Kassationsgericht geklärt werden müsse. Die Verteidigung kann mit ihrer Strategie zu der von Berlusconi seit Jahren betriebenen Delegitimierung des italienischen Justizapparats beitragen, den Prozessbeginn am 6. April wird sie nicht verhindern können.

Der Ministerpräsident bleibt dennoch im Amt. Denn nicht nur die eigene Partei steht hinter ihrem Chef. Immer mehr Abgeordnete, die noch im Sommer dem aus der Partei ausgeschlossenen Parlamentspräsidenten Gianfranco Fini gefolgt und in dessen neugegründete Partei „Zukunft und Freiheit für Italien“ (FLI) eingetreten waren, kehren inzwischen in Berlusconis Partei „Volk der Freiheit“ (PDL) zurück. Gegenüber den „verführerischen Waffen desjenigen, der regiert und über mediale und finanzielle Machtmittel verfügt“, erklärte sich Fini machtlos. Nachdem bereits im Dezember einige seiner Anhänger durch Stimmenthaltung dazu beitrugen, dass der Misstrauensantrag gegen Berlusconi scheiterte, hat seine Partei im Senat inzwischen sogar den Fraktionsstatus verloren. Im Parlament verfügt die Regierung aufgrund der Rückkehr der FLI-Abgeordneten wieder über eine knappe Stimmenmehrheit. Sich seiner parlamentarischen Mehrheit sicher, kündigte Berlusconi am Wochenende bereits eine neue Gesetzesoffensive zur Entmachtung der Staatsanwaltschaft an. Solange sein Koalitionspartner, die Lega Nord, ihn nicht fallen lässt, kann er seine Geschäfte in Rom weiterführen, auch wenn sich in Mailand die Weltpresse an den Details seiner Sex-Affären ergötzt, jeder andere seiner europäischen Amtskollegen längst hätte zurücktreten müssen und ihn US-Diplomaten, wie jüngste Wikileaks-Enthüllungen zeigen, als nützlichen Komiker verspotten.

Die Empörung über Berlusconis Verhalten führt auch bei den Demokraten dazu, dass sie sich eher aus moralischen als aus politischen Gründen von ihm distanzieren.

Die anschwellende Welle der Empörung, die zuletzt Hunderttausende seiner Gegner zu Massenansammlungen auf die italienischen Straßen und Plätze trieb, kann dem Regierungschef wenig anhaben. Die Proteste befördern ein diffuses Gemeinschaftsgefühl, aber sie dienen weder der politischen Analyse, noch führen sie zu politischen Handlungen. Die Entrüstung ist moralistisch und reaktionär, entzündet an einer als unsittlich empfundenen Handlung. Sie ruft lediglich das Bedürfnis hervor, für eine vermeintlich erlittene Beleidigung Sanktionen zu fordern.

Bereits seit Ende November 2009 finden regelmäßig Massenproteste statt. Damals konstituierte sich über Facebook der „Popolo Viola“ und organisierte den ersten „No-B-Day“. Unterstützung erfährt die Forderung, Berlusconi möge zurücktreten und sich den ihm anhängenden Prozessen stellen, von der Tageszeitung „Il fatto quotidiano“, aber auch die große linksliberale Zeitung „La Repubblica“ macht sich mit ihren unzähligen Petitionen gegen die Politik des Ministerpräsidenten zunehmend zum Sprachrohr eines vulgären Anti-Berlusconismus. Obwohl als parteiübergreifende Facebook-Gruppe entstanden, unterhält die Bewegung des „Popolo Viola“ lose Verbindungen zur Partei „Italien der Werte“ (IdV), die vom ehemaligen Mailänder Staatsanwalt Antonio Di Pietro gegründet wurde. Er gehörte Anfang der Neunzigerjahre zu den leitenden Ermittlern im Mailänder Untersuchungsverfahren „Mani pulite“. Damals war auf juristischem Weg das Ende des korrupten Parteiensystems der Ersten Republik besiegelt, aber keine demokratische Erneuerung eingeleitet worden. Stattdessen begann der politische Aufstieg Silvio Berlusconis. Knapp zwanzig Jahre später werden die politischen Missstände in Italien wieder nur juristisch verfolgt, nicht aber politisch bekämpft.

Umfragen zufolge sprechen sich weiterhin circa 40 Prozent der Bevölkerung für die Regierungskoalition aus, die vermeintlichen 60 Prozent Anti-Berlusconi-Anhänger bilden jedoch nur eine arithmetische, keine politische Mehrheit. Insbesondere die Demokraten, die die größte Oppositionspartei stellen, bieten nicht die propagierte „Alternative“. Aufgrund der nicht unbegründeten Sorge, Berlusconi könnte im Falle von vorgezogenen Neuwahlen als relativer Wahlsieger von dem im aktuellen Wahlgesetz festgeschrieben Mehrheitsbonus profitieren und sich im Verlauf der neuen Legislaturperiode zum Staatspräsidenten wählen lassen, haben sie sich in den vergangenen Monaten lange vor einer Zuspitzung der Regierungskrise gefürchtet.

Angesichts der jüngsten Ermittlungen gegen Berlusconi fordert die Demokratische Partei (PD) nun erstmals den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Die Empörung führt auch bei den Demokraten dazu, dass sie sich eher aus moralischen und weniger aus politischen Gründen von Berlusconi distanzieren. Gemeinsam mit den katholisch-konservativen Parteien der parlamentarischen Mitte und Finis postfaschistischer Splittergruppe will der PD eine „verfassungsgebende“ Übergangsregierung bilden, um den „demokratischen Notstand“ zu beenden und zu einer nicht näher bestimmten „Normalität“ zurückzukehren. Pier Luigi Bersani, der Vorsitzende des PD, warb dafür zuletzt sogar um die Gunst der Lega Nord. In einem Interview mit deren Parteizeitung „La Padania“ forderte er die separatistische Nordpartei auf, Berlusconis marode Regierung nicht länger zu unterstützen. Die von der Lega gewünschte föderale Umstrukturierung des italienischen Einheitsstaates könne auch in einer „großen Koalition“ ausgehandelt werden. Vorbehalte gegen die bisher treuesten Verbündeten Berlusconis gebe es keine, ihm brauche auch niemand erklären, dass die Lega nicht rassistisch sei, denn, so Bersani wörtlich, „das weiß ich selbst.“ Nur wenige Tage zuvor hatte der Innenminister der Lega Nord, Roberto Maroni, angesichts einiger Tausend tunesischer Flüchtlinge, die auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa angekommen waren, vor einem „biblischen Exodus“ aus Nordafrika gewarnt und die europäische Grenzschutzagentur Frontex zu einem energischen Eingreifen aufgefordert. Doch weder Maronis Aussagen noch das Interview von Bersani lösten eine Welle der Entrüstung aus. Die Massen stören sich nur an Berlusconi, nicht am System des Berlusconismus, zu dessen charakteristischen Merkmalen eine repressive, rassistische Immigrationspolitik gehört.

Auch Nichi Vendola, Apuliens linker Regionalpräsident, der bisher für eine radikale Abgrenzung zu den konservativen Parteien plädierte und den PD drängte, zusammen mit den sozialen Bewegungen ein neues Mitte-Links-Bündnis zu konstruieren, ließ sich mittlerweile von den empörten Massen Bange machen. Nach den imposanten Demonstrationen zur Verteidigung der Würde der Frauen glaubte er der diffusen Anti-Berlusconi-Stimmung nachgeben zu müssen. Erstmals erklärte er sich deshalb bereit, für eine Übergangsperiode der Schaffung einer „heiligen Allianz“, die von den Ex-Kommunisten bis zu den Postfaschisten reicht, zuzustimmen, vorausgesetzt, die Koalition würde von einer Frau angeführt. Er schlug die katholische Demokratin Rosy Bindi vor, die zu einer Galionsfigur des Anti-Berlusconi-Lagers avancierte, nachdem sie in einer Fernseh-Talkshow Berlusconis sexistische Angriffe schlagfertig pariert hatte. Obwohl Vendolas Vorschlag bei der radikalen Basis nicht gut ankam und von den Demokraten sowie von Bindi selbst abgelehnt wurde, zeigt der Vorstoß des linken Hoffnungsträgers, dass die Indignation leicht zu reaktionären Koalitionen führt, in der sich anständige Rechte und moderate Linke in wütender Harmonie zusammenfinden. Dabei kann der Zorn, der heute noch Berlusconi trifft, sich ganz schnell gegen jene richten, die im Ernst keinen Berlusconismus mehr wollen.

Catrin Dingler ist freie Journalistin und lebt zwischen Rom und Stuttgart.


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