EUROPAWAHL 2004: Wer rettet Europa?

Nun hat er sogar den Segen der Europa- Grünen: Jean-Claude Juncker soll die EU aus der Krise führen. Doch im eigenen Land herrscht EU-Chaos. Denn wer Luxemburg in Brüssel und Straßburg vertritt, ist bislang unklar.

Streicheleinheit für den Ratspräsidenten Bertie Ahern
(Foto: Tom Wagner / SIP)

Am Ende sind die WählerInnen Schuld. Genauer gesagt, das Luxemburger Elektorat. Nicht nur, dass CSV-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker aus den Nationalwahlen als Meistgewählter hervorging, auch in der Europawahl ist er mit über 40.000 Stimmen einsame Spitze. Und während ein bedrängter Premier alle Angebote für den Präsidentenposten der EU-Kommission mit dem Verweis auf seine klare Wiederwahl weit von sich weist, führen diejenigen, die ihn mit allen Mitteln nach Brüssel locken wollen, sein gutes Abschneiden bei der Europawahl ins Feld: Mit dem deutlichen Vorsprung seiner Partei bei den Nationalwahlen könne Juncker getrost nach Brüssel gehen – schließlich ziehe auch der klare Sieg bei der Europawahl eine gewisse Verantwortung nach sich.

„Everybody wants him“, beschrieb der irische Premierminister Bertie Ahern am Dienstag die Stimmung in der EU. Tatsächlich weitet sich das Feld der Juncker-Befürworter bis ins Feld seiner politischen Gegner aus. „Die Grünen werden versuchen, im Parlament Koalitionen zu bilden, damit jeder andere Kandidat abgewiesen wird“, versprach am Mittwoch der Vorsitzende der Fraktion der europäischen Grünen. „Wenn der Rat Juncker auf Knien bitten, den Job zu übernehmen“, führt Cohn-Bendit weiter aus, „dann ist auch der Sieg über die Luxemburger Öffentlichkeit gewiss.“

Zumindest einer davon ist bereits überzeugt: Claude Turmes, alter und neuer Europa-Abgeordneter von Déi Gréng, sieht Juncker als „bestmöglichen Präsidenten“ und als „Garant dafür, dass die Kommission ein wichtiger Akteur im EU-politischen Geschehen bleibt“. „Juncker würde im Gegensatz zu einem eigenen Kandidaten der Grünen die notwendige Mehrheit bekommen“, so Turmes, und er beteuert, dass man auch als Luxemburger Grüner kein Bauchweh dabei bekommen muss, einen Jean-Claude Juncker als Kommissionschef vorzuschlagen. „Uns ist er bedeutend lieber als der belgische Premier Guy Verhofstadt, der für eine neoliberale Politik steht.“ Juncker als soziale Alternative? Das wird möglicherweise bei der heimischen Basis doch der einen oder anderen Erklärung bedürfen.

Chaos in Straßburg

Die wird der Premier, sollte er „dem enormen Druck“ doch noch nachgeben, auch seinen WählerInnen liefern müssen. „Das ist seine und nicht unsere Verantwortung“, kommentiert Turmes die Tatsache, dass die Europagrünen wie andere Juncker-Befürworter gewissermaßen einfordern, Juncker solle sein Wahlversprechen jetzt brechen und das Amt in Brüssel antreten. Schließlich gebe es die Möglichkeit, durch einen zweiten Gipfel, „Juncker einen Gesichtsverlust zu ersparen“.

Auch andere scheinen sich bereits Gedanken darüber zu machen, wie der Luxemburger Doppel-Wahlsieger den Menschen in Luxemburg seine europäische Berufung nahebringen könnte. Die Frage der Nachfolge Romano Prodis könnte die EU-Spitze noch länger in Atem halten. In Straßburg ist sie in jedem Fall eng mit der Machtfrage im ersten Parlament des Europas der 25 Mitgliedstaaten verknüpft und akut stellt sie sich folgendermaßen: Wer soll neuer Parlamentspräsident werden? Die Allianz, zu der sich in der vergangenen Legislaturperiode Christdemokraten (EVP) und Liberale (ELDP) zusammengefunden hatten, um sich den Vorsitz für jeweils die halbe Amtszeit zu teilen, kommt nach den Wahlen nur mehr auf 276 plus 66, sprich 342 von 732 Sitzen.

Alles deutet also darauf hin, dass sich diesmal die Fraktion der Sozialdemokraten (ESP), die auf 201 Sitze kam, mit der EVP absprechen wird. Das Kräfteverhältnis im neuen Parlament ist noch unübersichtlicher als im alten. In Brüssel, das bestätigt auch die Luxemburger Europa-Abgeordnete Colette Flesch (DP), laufen derzeit Verhandlungen für eine neue politische Gruppierung, in der Vertreter des italienischen Olivio-Bündnisses um Romano Prodi, EVP-Mitglieder um den französischen UDF-Mann Francois Bayrou sowie die Mitglieder der bisherige Fraktion der Liberalen sich zusammenschließen würden. „Wir wollen Vertreter der Familie der Liberalen und der Demokraten zusammenbringen“, kündigt Francois Bayrou an. Mit über 80 Mitgliedern wäre diese Fraktion eine bedeutende Kraft im Parlament.

„Die neue Gruppe könnte bei so manchen Abstimmungen das Zünglein an der Waage sein“, mutmaßt Colette Flesch, die allerdings noch nicht weiß, ob sie selbst Mitglied dieser Gruppe sein wird. Vor Flesch wurden in Luxemburg die DP-KandidatInnen Lydie Polfer und Charel Goerens gewählt. Wer das Straßburger Mandat annehmen wird, ist bislang unklar. „Das sind Gerüchte“, kommentiert Colette Flesch knapp die RTL-Meldung, Lydie Polfer würde als EU-Kommissarin nach Brüssel gehen und damit als Kandidatin fürs Parlament ausscheiden.

Chaos in Luxemburg

Dank Doppelwahl herrscht Chaos in Luxemburg: Solange nicht feststeht, wer Mitglied der EU-Kommission wird, und solange die neue Luxemburger Regierung nicht gebildet ist, bleibt auch unklar, wer die Straßburger Mandate annehmen wird. Zumindest trifft dies auf für DP, LSAP und CSV zu. Lediglich die Grünen haben bislang mit Claude Turmes ihren Europa-Abgeordneten öffentlich bekannt gegeben.

Es könnte also sein, dass bei der ersten Sitzung des Parlaments Ende Juli nur ein Luxemburger Vertreter am Votum für den Kommissions- und den Parlamentspräsidenten teilnimmt. „Oder es läuft so wie 1979. Damals sind die entsprechenden Minister für einen Tag zurückgetreten, um in Straßburg anzutreten“, erinnert sich Colette Flesch. Da die jetzige Luxemburger Regierung bis auf Weiteres im Amt ist, könnte das aktuelle Wahlergebnis mit sich bringen, dass die Minister Juncker, Frieden und Biltgen sowie Polfer ebenfalls ihren Rücktritt erklären müssen, um ihr Mandat in Straßburg zumindest vorübergehend anzunehmen. „Damit würden wir uns allerdings lächerlich machen“, fügt Flesch hinzu. Und: „Wir müssen dieses Problem jetzt schleunigst angehen.“

Dasselbe ist aus CSV- und LSAP-Kreisen zu hören. Wieso die Erkenntnis erst nach den Wahlen kommt, ist allerdings unklar. „Wir müssten die Verfassung ändern, das geht nicht von heute auf morgen“, gibt Colette Flesch zu denken. Auch die LSAP-Gewählten halten sich bislang bedeckt, was ihre Straßburger Vertretung angeht. Jean Asselborn ist mit über 14.000 Stimmen der Erstplatzierte – er will sich nach den Koalitionsverhandlungen mit der Frage des Europaparlaments befassen. Der zweite auf der Liste, Robert Goebbels, hat indessen sein ganz persönliches Rezept gegen die Doppelwahl: Kommt es vor Ablauf der nächsten Legislaturperiode zu nationalen Neuwahlen, ist ein für allemal Schluss mit dem Kandidatenklüngel, dann wären Chamber- und Europawahl terminlich getrennt – auch ohne Verfassungsänderung. Unklarheiten auch bei der CSV: Die noch amtierende Kommissarin Viviane Reding will sich bislang nicht festlegen. Bis November soll die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission feststehen.

Das jetzt ausgebrochene Durcheinander zeige, so Claude Turmes, „dass wir richtig lagen“. Déi Gréng hatten von Anfang erklärt, ihr Kandidat für Straßburg sei Claude Turmes und diesen auch an den ersten Platz ihrer Europaliste gesetzt. Turmes bekam über 13.000 Stimmen und landete damit vor den nationalen Abgeordneten Gira, Bausch und Huss. Die Erklärung dafür, dass der Europamann Turmes dennoch gleichzeitig für die Chamberwahlen antrat, kennzeichnet jedoch auch die Grünen als ganz normale Wahlstrategen. “ Hätte ich nicht kandidiert, wären den Grünen viele Stimmen verloren gegangen. Das System ist eben so wie es ist.“ Auch hier ist also die Schuld bei den Wählenden zu suchen – würden sie ihre Stimmen nicht nach Bekanntheitsgrad sondern nach anderen Werten verteilen, wäre das Problem anders lösbar. Oder auch nicht. Fest steht, dass ein Neueinsteiger wie Turmes vor fünf Jahren mit 2.100 Stimmen auf Platz sieben der Grünen landete – und nur in den Genuss des Abgeordnetenmandats kam, weil die grüne Prominenz verzichtete. Doch auch das liegt bekanntlich am System.


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