BELGIEN: Ein Land am Limit

Seit einem Jahr ist Belgien mittlerweile ohne Regierung. Während ein Teil der Bevölkerung mit dieser Situation sehr gut leben kann, versuchen andere, die Spaltung auszuweiten. Ein Streifzug durch das Land, in dem der Ausnahmezustand zur Regel wurde.

Noch sind die Fahrpläne nicht an den Sprachgrenzen orientiert:
Busfahrer Christian Nuttinck zählt zu den pragmatischen Belgiern, für die der Identitätsstreit persönlich ohnehin keine große Bedeutung hat.

Das alte Belgien steht in der Morgensonne und raucht. Genüsslich. Entspannt. Unprätentiös. Belgisch eben. Eine Kippe zwischen zwei frühen Touren, begleitet vom Gezwitscher der Vögel. Genau richtig, morgens halb zehn in Enghien. Das alte Belgien heißt Christian Nuttinck, trägt ein blütenweißes Hemd, schwarze Hose und gestreifte Krawatte. Nuttinck ist Busfahrer und wartet am Bahnhof der Kleinstadt vergeblich auf Kunden. In aller Gelassenheit stößt er den Dampf aus und blinzelt im hellen Licht. Ein Blick auf die Uhr. Zeit gab es schon immer reichlich in diesem Land.

Alt ist Christian Nuttinck mit seinen 48 Jahren eigentlich nicht. Zudem sieht er eher noch jünger aus. Seine Biographie aber ist charakteristisch für das mehrsprachige Belgien: geboren in Flobecq, einem Dorf genau an der Grenze zwischen Flandern und Wallonien, das von seinen flämischen Eltern Vloesberg genannt wird. Wie heute die eigenen Kinder, besuchte er eine frankophone Schule. Zuhause wird dennoch niederländisch gesprochen, denn seine Frau ist Flämin. Sich selbst nennt Christian Nuttinck grinsend einen „evolutionierten Wallonen“. Kompliziert? Ja. Aber auch nicht weiter wichtig, findet er. Dann steigt er in den Bus, den er nach Geraardsbergen fahren soll. Dazwischen liegt, man ahnt es schon, die Sprachgrenze.

Wer das Städtchen Enghien, eine halbe Stunde südlich von Brüssel gelegen, friedlich in der Frühlingssonne liegen sieht, kann sich kaum vorstellen, welche Szenen sich Ende März hier abspielten. „Belgien berste!“ skandierten zweihundert Anhänger der rechtsradikalen Organisation Voorpost. Das alte Belgien, das pragmatische, mehrsprachige Land Christian Nuttincks, ist ihnen verhasst. Sie fordern ein neues, unabhängiges Flandern, und die belgische Dauerkrise macht ihnen Mut. Vor einem Jahr stürzte die Regierung über den Sprachenstreit rund um die bilinguale Hauptstadt. Die Neuwahlen im Juni gewann die separatistische Neu-Flämische Allianz. Seither konnten sich niederländischsprachige und frankophone Parteien nicht auf eine neue Koalition einigen. Die Flamen wollen mehr Befugnisse für die Regionen, die Frankophonen nicht. „Impasse“,
schreiben die Zeitungen des Landes.

Voorpost will daher ganz andere Verhandlungen führen: nicht um eine gemeinsame Regierung soll es gehen, sondern um die Spaltung des Landes. Das riefen sie auch in Enghien, aus einem Meer schwarz-gelber Fahnen heraus, auf denen der flämische Löwe drohend die Klauen erhob. „Belgien ist das Problem, Flandern die Lösung“, so steht es auf den Aufklebern, die die Demonstranten hinterließen. In der nähe des Rathauses trafen sie auf etwa hundert Menschen, die das genau umgekehrt sahen. Parolen wurden einander entgegengeschleudert, die Stimmung war aufgeheizt, die Polizei hatte Mühe, die Gruppen auseinander zu halten. Als die Nationalisten in ihren Bussen die Stadt verließen, kehrte die Ruhe nach Enghien zurück. Nein, es gibt keine Probleme hier, sagen die Bewohner. Die Unruhestifter kamen von außerhalb. Ihre Parolen, die Fahnen, alles wirkt wie ein Spuk.

Auch in Gent, der alten Universitätsstadt mit dem grün-alternativen Image, demonstrierten unlängst radikal-flämische Studenten, den hundertfachen Schrei nach Spaltung auf den Lippen. Ihr Marsch durch die dunklen Gassen der abendlichen Altstadt war ein gespenstisches Szenario. Neu sind solche Kundgebungen nicht in Belgien. Doch dass die Koalitionsverhandlungen nicht zu einem Ergebnis kommen, gibt den Aufmärschen ein anderes Gewicht. Kann man „les ex-trémistes“, wie man im frankophonen Landesteil verächtlich sagt, weiterhin als Spinner abtun, wenn die meisten Flamen ebenfalls eine Partei wählen, die die Spaltung will, wenn auch weniger radikal?

Es ist ein sonniger Abend Ende März, und Belgien überholt an diesem Tag den Irak als das Land, das am längsten ohne offizielle Regierung ist.

Lieselotte Deschutter findet, dass die Zeit reif ist für eine Gegenbewegung. Mit ein paar hundert jungen Bewohnern Gents hat die 19-jährige Studentin auf dem Kouter, einem Platz im historischen Stadtzentrum, soeben die „Frittenrevolution“ ausgerufen. Es ist ein sonniger Abend Ende März, und Belgien überholt an diesem Tag den Irak als das Land, das am längsten ohne offizielle Regierung ist. In einer weißen Bude gehen im Akkord Pommesschalen über den Tresen. Öliger Geruch hängt über dem Platz. Die Revolutionäre sitzen in kleinen Gruppen auf dem Boden. Sie essen geschmacksneutrale Fritten und trinken Bier aus roten Dosen für die Einheit des Landes. Pommes und Jupiler, so scheint es, sind zwei Symbole Belgiens, die bleiben, wenn alles andere in Frage gestellt wird.

Hinter der Frittenrevolution steht das Netzwerk „Niet in onze naam – Pas en notre nom“, das in den vergangenen Monaten mehrfach gegen eine drohende Spaltung Belgiens Stellung bezog. Die Jugendabteilung des Netzwerks organisierte in belgischen Studentenstädten die Happenings im Zeichen der Kartoffelstäbchen, zu denen 15.000 Menschen kamen. Der leichte, selbstironische Charakter war ein gefundenes Fressen für internationale Medien, doch das Anliegen dahinter ist ernst – und im Grunde durch und durch realpolitisch. „Wir brauchen dringend eine föderale Regierung. Allein schon für die soziale Sicherheit“, fordert Lieselotte Deschutter, die mit ihren lila Dreadlocks einem beliebigen Autonomen Zentrum entsprungen sein könnte.

Getragen wird die Frittenrevolution auch von der linken Jugendorganisation Comac, die am Rand des Platzes ein paar Stände mit marxistischen Devotionalien aufgebaut hat. Es ist just die Forderung nach einer Regierung, die Comac mit dem Klassenfeind verbindet. Zum Beispiel mit der Ratingagentur Standard & Poor`s, die im Winter an der Kreditwürdigkeit Belgiens zweifelte. Die Gläubiger, hieß es, erwarten ein Sparprogramm, um den Staatshaushalt zu sanieren. Allein, die verbliebene „Regierung der laufenden Angelegenheiten“ hat kein Mandat, ein solches zu verabschieden. Im April bescheinigte auch der IWF Belgien ein „Refinanzierungsrisiko“. Viele befürchten ein Übergreifen der Euro-Krise.

Es ist dennoch nicht der EU-Rettungsschirm, den Paul-Henry Gendebien anvisiert. Vielmehr soll Frankreich den ersehnten Unterschlupf bieten, nicht für ganz Belgien, sondern den frankophonen Landesteilen. Diese mit dem großen Nachbarn zu vereinen, ist das Ziel des „Rassemblement Wallonie-France“ (RWF). Dessen Präsident Paul-Henry Gendebien steht wie immer vor einer wallonischen Flagge, die rechts und links von einer französischen umrahmt wird. Etwa 150 Zuhörer haben sich im eleganten Festsaal der Brasserie François in Namur versammelt. „Wohin geht Belgien?“ ist das Motto des Abends. Für ihn nur eine rhetorische Frage, denn wie draußen hinter den hohen Fenstern das Licht des Abends wird auch Belgien eines Tages unvermeidlich verschwinden, sagt Gendebien.

Auf den genauen Zeitpunkt will sich Gendebien nicht festlegen. Doch der Stillstand der Koalitionsverhandlungen, der Dauerstreit über eine weitere Regionalisierung, die die Flamen wollen und die Frankophonen nicht – all das seien Anzeichen, dass der Tag näher kommt. 71 Jahre ist Gendebien, der mit seinem silbernen Scheitel und dem vornehmen braunen Anzug wie ein feinsinniger Großvater wirkt. Im Februar veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „La raison et le coeur – Oui à la France“: ein feuriges Plädoyer für die Vereinigung mit Frankreich. „Wollen wir bis 2013 so weitermachen?“, ruft Gendebien. Unter tosendem Applaus verlässt er das Rednerpult.

An der Sprachgrenze deutet am Tag darauf nichts auf eine vorrevolutionäre Situation hin. Ein paar Kilometer hinter Enghien liegt die flämische Siedlung Kokejane im mittäglichen Tiefschlaf. Das „Esscafé Erbsünde“ hat ebenso geschlossen wie der Zeitungskiosk, der „Het Laatste Nieuws“ ebenso anpreist wie „Le Soir“. Am Kreisverkehr haben sich drei Straßenarbeiter zur Pause niedergelassen. Sie wohnen in Tournai, 50 Kilometer westlich an der französischen Grenze gelegen. Ihr Arbeitsgebiet ist ganz Belgien, und Probleme bei Aufträgen in Flandern hatten sie noch nie. Überhaupt habe sich nichts verändert, seit das Land keine Regierung mehr hat. „Das Leben läuft normal“, findet Stéphane, der eine Bierdose hinter der Kühltasche verbirgt. Und dazu gehört inzwischen auch, keine Regierung zu haben. Dass sich daran in den kommenden Monaten etwas ändert, erwartet er nicht.

Manchmal kommt in diesem Frühjahr der Gedanke an Bye Bye Belgium auf, eine fiktive Sondersendung über die Abspaltung Flanderns. Als sie 2006 im frankophonen Staatsfernsehen RTBF ausgestrahlt wurde, löste sie hysterische Reaktionen aus, weil die Zuschauer alles für real hielten. „Ceci n´est peut-être pas une fiction“ erschien vor der ersten Szene auf den Bildschirmen, eine Prophezeiung, die sich seither zu bewahrheiten scheint. Der Prophet, RTBF-Journalist Philippe Dutilleul, sieht sich tatsächlich als eine Art Rufer in der Wüste. Er schrieb das Skript, um auf einen existenziellen Widerspruch aufmerksam zu machen. „Die Frankophonen träumen noch immer von einem vereinten Belgien, während die Flamen nach Autonomie streben.“

Dutilleuls Fiktion und die Realität nähern sich an, daran besteht wenig Zweifel – auch wenn der Filmmacher darauf hinweist, dass ein unabhängiges Flandern heute noch nicht zur Debatte steht. Der permanente Stillstand jedoch überrascht selbst Dutilleul: „Ich hätte nicht gedacht, dass diese Krise so lange dauert.“ Genau ein Jahr ist es her, dass Premier Yves Leterme beim König seinen Rücktritt einreichte, und keines seiner beiden regulären Kabinette saß so fest im Sattel wie die kommissarische Regierung, die er seither leitet. Die Zahl der gescheiterten Vermittler geht demnächst in den zweistelligen Bereich. Dutilleuls setzt eine nachdenkliche Mine auf. „Man muss überlegen, was unser gemeinsames Interesse ist“, sagt Philippe Dutilleul. „Es ist eine philosophische Frage. Hat dieses Land noch einen Sinn?“

Tobias Müller berichtet für die woxx aus Belgien.


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