EU-FLÜCHTLINGSPOLITIK UND DIE FOLGEN: Katastrophe auf den Klippen

Die genaue Zahl der Flüchtlinge aus Nordafrika, die auf der gefährlichen Fahrt übers Mittelmeer ihr Leben verlieren, ist nicht zu ermitteln. Am Wochenende ist erneut ein Schiff vor Lampedusa havariert – mit furchtbaren Folgen.

Keiner weiß, wie viele Flüchtlingsschiffe aus Afrika havarieren, ohne dass die Welt Kenntnis davon bekommt: Dieses Schiff kenterte am vergangenen Wochenende an den Klippen vor Lampedusa – drei Menschen kamen dabei zu Tode.

Es ist kurz nach drei Uhr in der Nacht, als die Küstenwache das leere Schiff der Flüchtlinge quer durch den Hafen steuert, hinüber ins militärische Sperrgebiet, wo die anderen liegen, die in den letzten Tagen die Insel erreichten. Immer größer werden die Boote, seit der Hauptzustrom aus Libyen kommt, vorbei ist die Zeit der kleinen Holzkähne, mit denen die Tunesier im Februar und März übersetzten. 800 Menschen waren an Bord dieses Schiffes, Sudanesen, Nigerianer, dazu Gastarbeiter aus Bangladesch und Pakistan, gestrandet im libyschen Krieg. Anderthalb Stunden dauerte es, bis sie alle an Land waren, mit Wasser, Decken und Keksen notdürftig versorgt, die Kranken und Verletzten abtransportiert, doch jetzt liegt Ruhe über dem Hafen. Die Helfer sind verschwunden, die meisten Journalisten auch, nur der Generator des Roten Kreuzes tönt weiter durch die Nacht.

Das Flutlicht, das er antreibt, scheint nicht umsonst. Ein Gerücht macht die Runde, ein zweites Boot sei unterwegs, mit weniger Insassen. Tatsächlich kehren kurz darauf die Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen zurück, auch die Helfer der Küstenwache schwirren herum, während die Mannschaft des Roten Kreuzes ihre Bahren bereitstellt. Mehrere Krankenwagen gehen in Position. Wie immer, wenn sich ein Boot nähert. Die Hilfskräfte ahnen nicht, dass dieses Mal kein Routineeinsatz vor ihnen liegt. Das Begleitboot des Flüchtlingskahns nimmt Kurs auf den Anleger. Doch wo sind die Flüchtlinge, wo ist ihr Schiff?

Plötzlich durchschneiden Schreie vom Meer her kommend die Nacht und steigen über das Kliff, das sich im Westen dem Hafen anschließt. Umgehend setzen sich Helfer und Polizisten in Bewegung, ein Treck windet sich den steilen Hügel hoch, zielstrebig, und doch ratlos, denn was sich hinter der Sichtbarriere abspielt, weiß niemand. Wenige nur haben Taschenlampen, Dunkelheit und unebenes Gelände bremsen den Schritt, die aufgeregten Stimmen, die von drüben herüber wehen, beschleunigen ihn. Wer hoch genug ist, bekommt Sicht auf das Boot. Zwanzig Meter vor der Küste liegt es, und es hat Schlagseite. Während der blaue Rumpf sich hebt und senkt, schlägt die Gischt an der Bordwand hoch. Ein Mann im weißen Overall der Küstenwache hebt sich von den Passagieren ab, die sich an der Reling drängen und festklammern.

Ein anderer steht am Ufer, ganz vorne, auf dem letzten Felsen. Unter dem Arm trägt er einen Rettungsring. Er wirft ihn nicht. Was kann ein einziger Ring in schäumendem Weißwasser ausrichten, wenn es 500 Menschen ans Ufer zu holen gilt? Auch den Helfern geht es so. Unschlüssig stehen sie auf den Klippen, als könnten sie nicht glauben, was sie sehen: ein havariertes Flüchtlingsschiff, das die Einfahrt zum Hafen verfehlte und auf die Felsen gelaufen ist. Unten am Hafen starten Motoren, ein Krankenwagen setzt sich in Bewegung, ihm folgt einer der Linienbusse, mit denen die Bootsflüchtlinge immer ins Camp gefahren werden. Jemand wirft ein Tau an Bord, an dem sich die ersten an Land hangeln. Dort sinken sie zusammen. Viele bleiben erst einmal hocken oder liegen.

Überlebende auf Lampedusa erzählen, die Fahrt koste nicht einmal Geld, seit Gaddafi sich entschlossen hat, die Afrikaner, die er zuvor abfing, der EU als Bumerang zu schicken.

Inzwischen haben Helfer Decken herauf gebracht, und die Thermofolien, die bei jeder Landung hier den unterkühlten Passagieren umgelegt werden. Ihre goldenen Außenseiten reflektieren im Schein der Taschenlampen, als matt glänzende Punkte bewegen sich die Geretteten staksig und orientierungslos voran. Helfer und Polizisten, Insulaner und Journalisten geleiten sie die stockdunkle Anhöhe hinauf, wo Blaulicht die Ambulanzwagen anzeigt. Einen Einsatzplan gibt es nicht mehr, wer hier ist, fasst mit an. Büsche, Löcher und spitze Felsen machen aus dem Weg einen Hindernisparcours. Manche Flüchtlinge sind barfuss, andere tragen Socken, aber keine Schuhe. Aus Gesichtern sprechen Schock und Erschöpfung. „Frisch erlittene Traumas“, wird ein Fotograf später sagen, der bei dem, was er hier sieht, nicht mehr fotografieren mag.

Über dem Meer steht ein Hubschrauber. Bohrend weht der Ton der Propeller herüber und trifft auf das metallische Rauschen, das der Wind in den Goldfolien erzeugt. Wieder setzen die Schreie auf dem Boot ein, das Heck neigt sich tief hinunter um gleich wieder zurück zu schwingen. Ein Mann brüllt einen Namen, der wie „Buro“ klingt, wieder und wieder, und dreht sich dabei in alle Richtungen. Wer die Reling nicht im Griff hat, verliert den Halt und fällt in die Wellen. Panik erfasst die Menschen auf Deck, einige robben geduckt am Rand entlang, hin und her schlingert das Schiff. Als es sich das nächste Mal senkt, springen sie, erst einzelne, dann drei oder vier zugleich, eine Lawine der Verzweiflung. Ein paar nur tragen Schwimmwesten, Arme und Beine, die längst ermattet sind von der Überfahrt, wühlen sich durch das Weißwasser, Helfer versuchen eine Kette zu bilden, um heraus zu fischen, wen sie bekommen können.

„Fünf Tage“, stößt Monday hervor, und der junge Nigerianer wiederholt diese Worte, als könne er selbst nicht glauben, wie lange die Reise von Libyen dauerte. Irgendwann ging ihnen das Wasser aus. Oben bei den Wagen trifft Monday auf einen Bekannten. „Where the fuck where you?“, sagt dieser eindringlich. Die Angst sich zu verlieren spricht aus jeder Silbe. „Salam aleikum“, grüßt ein Schiffbrüchiger einen Helfer. Ein anderer bittet darum, jemand möge seinen Bruder suchen, den er vermisst. Die ersten Agenturmeldungen wissen ein paar Stunden darauf, dass eigentlich Malta das Ziel des Boots war, die dortige Küstenwache es aber Richtung Lampedusa eskortiert habe. Berichte über Streitereien zwischen beiden Inseln, wer für Flüchtlinge zuständig sei, gibt es immer wieder.

Trotz allem brechen immer mehr Boote auf, besonders von der libyschen Küste. Überlebende auf Lampedusa erzählen, die Fahrt koste nicht einmal Geld, seit Gaddafi sich entschlossen hat, die Afrikaner, die er zuvor abfing, der EU als Bumerang zu schicken. Und so sind es vor allem Menschen aus Nigeria, aus Ghana, dem Sudan, dem Horn von Afrika und immer mehr Ivorer, die sich an Bord der rostigen Schiffe wagen. Dazu kommen Arbeiter aus Südasien, die in der libyschen Kriegsökonomie nicht mehr gebraucht und von ihren Firmen entlassen wurden. Wie Shihan, ein schmächtiger Pakistani in weißem Hemd, der dehydriert und mit wirrem Blick über die Klippen stolpert. „I need your help“, murmelt er, wenn ihn jemand anspricht, der nicht mit auf dem Boot war. Dann blickt er auf: „Which country is this?“

Als Lampedusa, ein Stückchen Felsen im Mittelmeer mit viertausend Bewohnern, wenig später erwacht, zeigen die Fernseher in den Eisdielen bereits die Bilder der Nacht. Auch am Tag nach dem Schiffbruch werden Boote kommen, und wenn nicht, dann am nächsten. Die Angst vor einer Katastrophe gehört ab jetzt dazu. Immerhin, meinen die Nachrichtensprecher noch erleichtert verkünden zu können, konnten alle Insassen gerettet werden. Erst zwei Tage später werden Taucher bei der Bergung des havarierten Schiffs drei Leichen finden.


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