BILDUNG: Rot, gelb – und braun

Die Waldorfschule auf dem Limpertsberg platzt aus allen Nähten. Im neuen Oberstufengebäude büffeln Schüler fürs Bac. Zeit für einen Blick hinter die Kulissen.

Eine schmuddelig grüne Blechbaracke, ein Baucontainer, ein betonierter Schulhof – eine anthroposophische Privatschule stellt man sich eigentlich anders vor. Lediglich das neue Oberstufengebäude weist auf die besondere Bedeutung hin, die Luxemburgs einzige „Fräi-Öffentlech Waldorfschoul“ Farben zumisst: Es leuchtet in kräftigem Rot, Gelb und Blau. Wer dann ins Innere der ansonsten tristen Barackenlandschaft vordringt, kann nur neidisch werden: helle Räume mit viel Holz und Licht in den buntesten Farben. Vom anonymen Grau vieler Staatsschulcontainer ist hier nichts zu sehen.

„Das Rot in der ersten Klasse steht für das Gefühl“, sagt Lehrer Marc Castagna. Die Räume der fünften Klasse sind gelb, die der Oberstufe und auch der Musiksaal mit dem schwarzen Flügel sind blau gestrichen. „Denken verlangt einen kühlen Kopf“, erklärt Castagna die wundersame Farbenlehre. Jede Altersstufe hat demnach ihre spezifische Farbe an den Wänden.

Castagna, in Luxemburg geboren, Ex-Staatsschullehrer und Anthroposoph, hat die Schule 1982 mit aufgebaut. Was als Pilotprojekt engagierter Eltern und LehrerInnen begann, ist mittlerweile zu einem regelrechten Schulkomplex herangewachsen: 370 SchülerInnen aller Altersstufen besuchen inzwischen die Schule auf dem Limpertsberg – und es könnten noch mehr werden. Denn mit der Misere des öffentlichen Schulsystems steigt die Nachfrage nach Privatschulen. Als Argumente für die Waldorfschule nennen Eltern, die durchschnittlich 220 Euro Schulgeld monatlich berappen müssen, oft die schlechte Förderung in der Regelschule und das rigide Notensystem.

Auch Dominique Schlechters Söhne gehen auf die Waldorfschule, weil „sie die einzige Alternative zum herkömmlichen Schulsystem ist“. An der Einrichtung gefällt der studierten Theologin und Soziologin „der andere, positive Blick auf die Kinder“. Statt schon von Kindesbeinen an Wissen eingetrichtert zu bekommen, gehe es den Waldörflern vor allem „um das Lernen als ganzheitlichen Prozess“, sagt Schlechter. Jedem Kind werde mehr Zeit gewidmet, der Leistungsdruck sei geringer, die Fülle des Unterrichtsstoffes weniger.

Davon profitiert auch das Lehrpersonal: „Das Unterrichten macht mehr Spaß“, begeistert sich Marie-Hélène Decker – obwohl die Französischlehrerin an der Waldorfschule nur rund zwei Drittel dessen verdient, was sie in der Regelschule bekommen könnte. Die 58-Jährige ist seit 1986 dabei und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Waldorfschule neuerdings auch den anerkannten Abschluss „Bac International“ anbietet.

Mit Kopf, Herz und Hand

Waldis, wie sich Waldorfschüler selbst nennen, lernen besonders in den ersten Schuljahren spielerisch – „mit Kopf, Herz und Hand“, sagt Castagna: Auf dem Lehrplan der Jungen und Mädchen stehen Töpfern, Stricken, Holzarbeit und Eurythmie, das ist eine Art Tanz, bei dem Gefühle und Sprache durch Gebärden ausgedrückt werden. Malen und Theater sind weitere feste Bestandteile des Unterrichts – daher wohl der Ruf mancher Waldis etwas schöngeistig zu sein.

Die Waldorfpädagogik funktioniert, noch ein Unikum in Luxemburgs Schullandschaft, weitgehend notenfrei. Statt Punkten gibt es schriftliche Zeugnisse. „Wir bemühen uns, die Zeugnisse so zu formulieren, dass sie motivieren“, so Castagna. Nicht die Defizite eines Schülers stünden im Mittelpunkt, sondern seine Fähigkeiten. „Wenn die Eltern die Zeugnisse aufmerksam lesen, werden sie das Leistungsniveau ihrer Kinder erkennen“, beruhigt Klaus Beeskow diejenigen, die auf einen Leistungsvergleich nicht verzichten mögen. Der Geschäftsführer der selbstverwalteten Privatschule ist sich sicher: Die Waldorfpädagogik habe „Großes geleistet“, davon zeugten rund 880 Waldorfschulen weltweit. Den Luxemburger Staat interessiert das offenbar wenig: Zur Eröffnung des Oberstufen-Containers erschien Schulministerin Mady Delvaux-Stehres nicht. Und obwohl die Waldorfschule sich als luxemburgische Schule begreift und einen staatlich anerkannten Abschluss vergibt, erhält sie weniger Zuschüsse als die konfessionellen Privatschulen.

Immerhin pädagogische Anerkennung bekommen die Waldörfler vom Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck: Schüler in skandinavischen Schulen, europäische Spitzenreiter bei Pisa, würden nach Prinzipien unterrichtet, die „Waldorf seit über 80 Jahren praktiziert“, so Struck in einem Interview.

Steiners „Wurzelrassen“

Nicht mehr so selbstsicher und gelassen wirken Beeskow und Castagna allerdings, wenn es um die dunkleren Seiten der Waldorfpädagogik geht. „Die Diskussion ist sinnlos, weil sie grundlos ist“, ereifert sich Castagna auf die Frage, was dran ist an den Vorwürfen gegen den Begründer der Anthroposophie. Rudolf Steiner, der 1919 mit dem Zigarettenfabrikanten Emil Molt in Stuttgart die erste Waldorfschule gründete und als Spiritus Rector der Anthroposophenpädagogik gilt, ist nach seinem Tode im Jahr 1925 wiederholt des Rassismus und Antisemitismus bezichtigt worden. Grundlage dafür sind Zitate wie: „Der Neger hat ein starkes Triebleben“, „die weiße Rasse ist die am Geist schaffende Rasse“ oder „da alles dasjenige, was die Juden getan haben, jetzt in bewusster Weise von allen Menschen getan werden könnte, so könnten die Juden eigentlich nichts Besseres vollbringen, als aufgehen in der übrigen Menschheit, sich vermischen mit der übrigen Menschheit, so dass das Judentum als Volk einfach aufhören würde“.

Die Aussagen seien aus dem Kontext herausgerissen worden und zudem zeitgeschichtlich zu verstehen, verteidigt Castagna Steiner. Wie er reagieren viele Anthroposophen. Beeskow liest statt einer eigenen Antwort aus einer Broschüre vor: „Rudolf Steiner als aktiver Gegner des Antisemitismus“ und „Antisemitismus und Rassismus sind barbarisch und kulturfeindlich“ steht dort. Doch die wissenschaftliche Studie, auf die sich die vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebene Broschüre beruft, ist keineswegs neutral. Autor Lorenzo Ravagli aus München ist Anthroposoph und Herausgeber des „Jahrbuches für anthroposophische Kritik“. Er versucht seit Jahren, Steiner vom Rassismus-Verdacht rein zu waschen.

Seriöse WissenschaftlerInnen warnen dagegen vor einem unkritischen Steiner-Kult. Als rassistisch gelten weniger einzelne Zitate des Anthroposophen, sondern Steiners Versuch, biologische „Rassen“ mit dem Grad der mentalen „Entwicklungsreife“ ihrer Angehörigen zu verbinden und somit eine Hierarchisierung von Menschen spirituell zu begründen. Dieser Evolutionismus, so die Berliner Ethnologin und Ex-Waldorfschülerin Ute Siebert in einem Brief an Ravagli, impliziere Rassismus.

Die so genannten Wurzelrassen scheinen auch in so manchem luxemburgischen Waldorf-Hirn fortzuexistieren. „Es gibt ja Rassen: Es gibt die schwarze Rasse, es gibt die gelbe Rasse, es gibt die rote Rasse, es gibt die weiße Rasse“, ist Marc Castagna überzeugt. Man könne nicht so tun, als gebe es keine Unterschiede zwischen den Menschen. Wichtig sei aber, „den Anderen in seinem Anderssein zu akzeptieren“ – und ihn eben „nicht zu bewerten“.

Auch wenn Rudolf Steiner nach den Worten des Politologen Helmut Zander „kein scharfmacherischer politischer Rassist oder Antisemit“ gewesen ist: Dass die Wurzelrassentheorie zu gefährlichen Bewertungen führt, zeigen Sätze wie „das Genie der arischen Rasse“ oder „die schwarze Pigmentierung der Neger hat ihre Ursache in einem zu schwachen Ich-Gefühl“. Sie wurden in einem Lehrbuch des Anthroposophen Ernst Uehli – ein Kollege Steiners – gefunden, das Waldorflehrern noch im Jahr 2000 zur Vorbereitung des Geschichtsunterrichts empfohlen wurde. Aufgrund des öffentlichen Drucks wurde das Buch vom Bund Freier Waldorfschulen zurückgezogen.

Vorsicht vor U-Booten

Einen ähnlichen Vorfall gab es auch in Luxemburg. Im Jahr 1993 war in einem Waldorfer Geschichtskurs das faschistische Pamphlet „Adler und Rose, Wesen und Schicksal des deutschsprachigen Mitteleuropa“ des Schweizer Holocaust-Leugners und Waldorflehrers Bernhard Schaub aufgetaucht. Erst auf Drängen empörter Eltern wurde der verantwortliche Lehrer entlassen.

Und noch ein aktuelles Beispiel aus Deutschland zeigt, wie real die Gefahr rechtsextremer Unterwanderung ist: Ein Waldorflehrer unterrichtete acht Jahre lang Deutsch und Geschichte. Von seiner braunen Gesinnung erfuhren die geschockten Kollegen erst, als dieser sich bei der rechtsextremen NPD in Sachsen als Redakteur bewarb. Gegenüber der Presse sagte der Lehrer, er habe keine Widerspruch zwischen seiner Lehrertätigkeit und seinen politischen Ansichten gesehen.

Das sehen Schlechter und Beeskow freilich ganz anders. „Das wäre der Hammer, wenn so etwas bei uns passieren würde“, sagt Schlechter, die im Elternkreis der hiesigen Waldorfschule aktiv ist. Wie Beeskow setzt sie auf die Selbstkontrolle von Eltern und LehrerInnen. Weil jeder jeden kenne, sei die Gefahr rechtsradikaler Unterwanderung eher gering, meint Beeskow. Und er fügt entschlossen hinzu: „So einer würde auch bei uns fliegen.“


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