VERHALTENSKODEX IM EUROPAPARLAMENT: Transparenz ohne Gewähr

Dank des neuen Verhaltenskodex müssen Europaabgeordnete von nun an mit deutlich offeneren Karten spielen. Aber Schlupflöcher gibt es immer noch.

Der „Lobbyvirus“ grassiert im Straßburger Plenarsaal. Wird der neue Verhaltenskodex ausreichend Schutz bieten?

Das Europaparlament, das demokratischste aller Organe des Europa-Gebildes, hat mit der Annahme eines neuen Verhaltenskodex einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu dem Ziel getan, die Untergrabung eben dieser demokratischen Legitimation durch Interessenkonflikte zu verhindern. Dass diese Gefahr sehr real ist, hat die von der Sunday Times aufgedeckte Bestechlichkeit der drei Parlamentarier Ernst Strasser (Österreich, EPV), Adrian Severin (Rumänien, PSD) und Zoran Thaler (Slowenien, SD) drastisch vor Augen geführt (woxx 1114): In dem Glauben, die Reporter seien Lobbyisten, die seine politische Einflussnahme gegen Geld in Anspruch nehmen wollen, erklärte Strasser ohne Umschweife, er sei sowohl Lobbyist als auch Politiker. Und in aller Naivität: „Ich will hier mein Netzwerk aufbauen und es nach meiner Zeit als Abgeordneter nutzen.“ Manchmal verschwinden die Verdachtsfälle, zu Recht oder Unrecht auch ebenso schnell wie sie gekommen sind. So etwa, als kürzlich die Behauptung aufkam, Mitverantwortliche der jüngsten Ausarbeitung zur EU-Rohstoffgesetzgebung seien mit der Rohstofflobby verquickt. Das gängigste Problem stellen jedoch die Verhältnisse dar, die schon fast zum Alltag gehören und bei denen die Grenze weit weniger klar zu ziehen ist als bei den drei eklatanten Bestechungsfällen. Ein geläufiges Beispiel sind die Nebentätigkeiten in Anwaltskanzleien. Wo hört das Interesse des Kunden auf und fängt das des Politikers an? Laut ALTER-EU?1 geht einer von drei Parlamentariern einer Nebenbeschäftigung nach, in einem von sieben Fällen besteht ein Potenzial von Interessenkonflikten. Der neue Verhaltenskodex, der bis Ende des Jahres in Kraft treten soll, will dem nun ein Ende bereiten.

Recht zufrieden stellte der Europa-Abgeordnete der Grünen Claude Turmes, als Mitglied des speziell für die Ausarbeitung eingesetzten Transparenz-Gremiums, das Ergebnis der Verhandlungen über den Kodex vor. Eine einfache Geburt sei es nicht gewesen, bis kurz vor Abschluss der Ausarbeitungen habe er befürchten müssen, dass die vollständige Offenlegung der Nebeneinkünfte letztendlich nicht in die Regeln aufgenommen werden würde, da einige der Mitglieder der Arbeitsgruppe sich vehement dagegen sperrten. In Artikel 3 des Kodex erscheint diese Verpflichtung aber nun ? die Mitglieder des Europaparlaments (MdEP) müssen jegliche Nebenaktivitäten angeben und sie, unter Nennung des Kunden oder Arbeitgebers, in eine von vier finanziellen Kategorien einordnen. Zudem wird jegliche bezahlte Nebentätigkeit im Bereich des Lobbying durch die neuen Vorschriften verboten.

Um dem Ganzen zu einer realistischen Chance zur Umsetzung zu verhelfen, wurden bereits vorhandene Sanktionsmechanismen verschärft und die Einrichtung eines beratenden Gremiums, bestehend aus fünf Parlamentariern, beschlossen. Seine Aufgabe wird es sein, den Abgeordneten eine beratende Orientierungshilfe bei Interessenkonflikten zu geben und auf Verlangen des Präsidenten über Verstöße gegen den Verhaltenskodex zu befinden, eventuell auch mit Rückgriff auf externe Experten.

Trotz der unbestreitbaren Fortschritte, die das Parlament mit den neuen Verhaltensregeln gemacht hat, gibt die Nichtregierungsorganisation LobbyControl, die über Machtstrukturen in der EU aufklären will, nicht allen Bestimmungen ihr Gütesiegel. Wie sieht es beispielsweise aus mit Abgeordneten, die neben ihrer parlamentarischen Tätigkeit Aufsichtsratsmandate in Firmen wahrnehmen, die politische Interessen verfolgen? Sind die Verpflichtungen zur Selbstkontrolle und zur selbstständigen Signalisierung des Konflikts, die für die MdEP obligatorisch sind, ausreichend? Wie gründlich wird das Ethikkomitee arbeiten müssen, um auf alle Betroffenen ein wachsames Auge zu haben? Wäre es am Ende vielleicht nicht sicherer, bestimmte Funktionen bei einem Parlamentsmandat auszuschließen?

Eine Regelung, die bedauerlicherweise keinen Eingang in den Kodex gefunden hat, ist eine Karenzzeit für EU-Abgeordnete. ALTER-EU fordert für MdEP eine 18-monatige Frist nach dem Ende ihres Mandats, in der ihnen jede Lobbytätigkeit untersagt ist. Mit den neuen Regeln verlieren die ehemaligen Abgeordneten bei unmittelbarer Aufnahme von Lobbytätigkeiten den Anspruch auf Übergangsgelder, die in der Regel zwischen sechs und 24 Monaten gezahlt werden, doch eine komplette Auszeit wird nicht verlangt. Das Parlament selbst forderte erst 2010 eine solche Karenzzeit für EU-Kommissare, um auszuschließen, dass die privilegierten Beziehungen zu den EU-Institutionen in eigener Sache genutzt werden. Doch den Schlüssel zur Drehtür wollen sie selbst dann doch nicht so schnell abgeben. Die Gefahr, dass Machtverhältnisse hinter den Kulissen entstehen, ist somit nicht völlig gebannt.

Die Einrichtung des Ethikkomitees wurde von der Transparenz-Arbeitsgruppe auf einer von „sehr schwach“ bis „sehr stark“ reichenden Skala als „mittel“ eingeschätzt. Es ist zwar ein Fortschritt, dass es nun erstmals eine Einrichtung gibt, die für Interessenkonflikte verantwortlich ist, doch sind deren Angehörige nicht unabhängig, wie es beispielsweise im französischen und irischen Parlament der Fall ist. Eine Selbstkontrolle durch die Abgeordneten reiche hierbei aber nicht aus, so LobbyControl, vielmehr sollten unabhängige Experten permanent Teil des Komitees sein. Auch hinsichtlich der Sanktionen, die im Ernstfall verhängt werden können, wurde bisher nur eine Verbesserung von „schwach“ auf „mittel“ erreicht. Trotz der Möglichkeit, zusätzlich zu den Streichungen der täglichen Aufwandsentschädigung und dem Ausschluss von einigen oder auch sämtlichen Parlamentstätigkeiten für zwei bis zehn Tage, einem Abgeordneten beispielsweise seine Berichterstatterfunktion abzuerkennen, beurteilt die NGO die Maßnahmen als unzureichend.

Alle Schlupflöcher zu stopfen scheint ein unmögliches Unterfangen. So werde beispielsweise keine Transparenz-Forderung an die sogenannten inoffiziellen „interfraktionellen Arbeitsgruppen“ gestellt, kritisiert LobbyControl. Zwar müssen offizielle „Intergroups“, die als informelle Zusammenschlüsse zur Willensbildung im Parlament beitragen, ihre Finanzierung offen legen, für inoffizielle Gruppen gelten derartige Regeln jedoch nicht. Niemand sei im Bilde, wie viele von diesen es gibt, wer ihnen angehört und wie viel Geld fließt, so Timo Lange, Campaigner für EU-Angelegenheiten bei LobbyControl. Dennoch werden hier oft Parlamentarier mit Wirtschaftslobbys zusammengebracht. „Rechtlich können die Gruppentreffen als Veranstaltungen gesehen werden, die von Externen finanziert werden und an denen Parlamentarier lediglich teilnehmen. Beliebte Formate sind Frühstückstreffen, Dinner-Diskussionen oder Exkursionen,“ so Lange. Derzeit gebe es 27 offizielle Intergroups, aber für die inoffiziellen belaufen sich die Schätzungen auf 60 bis 80.

Alles in allem ist mit der Einführung des neuen Verhaltenskodex für Europaabgeordnete ein wichtiger Schritt getan. Wachsamkeit ist jedoch nach wie vor geboten.

1 ALTER-EU: The Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation ist ein EU-weites Netzwerk von über 160 zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Wissenschaftlern.


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