Vintage-Kalkül

Vintage-Kalkül
Es ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, wie es sich anfühlte, als 1968 der Italo-Western „Il buono, il brutto, il cattivo“ die Kino-
leinwände eroberte. Ob die Menschen zu dem Zeitpunkt wussten oder auch nur ahnten, dass sich das Titelthema des italienischen Komponisten Ennio Morricones mit koyoten-ähnlichem Geheul, Kanonenschüssen und Pfiffen in das Langzeitgedächtnis eines jeden Film- und Musikkenners einbrennen würde? Morricone war jedoch nicht der einzige, der ab den 1960er Jahren in Italien etliche B- und C-Movies von so genannten Italo-Western über Giallo- und Poliziotteschi-Filme musikalisch untermalte. Weit weniger bekannt sind Bruno Nicolai, Allesandro Allessandroni, Pierro Piccioni, Luis Bacalov und viele andere. Bis 2011, als Superproducer Brian Burton alias Danger Mouse eine Supergroup zusammentrommelt, die mit dem Album Rome diesen Komponisten huldigen sollen. Es wurden keine Kosten gescheut und Wert darauf gelegt, dass die Orchestermusiker, Aufnahmematerial sowie Instrumente aus den alten analogen Zeiten stammen. Das Resultat hinterlässt jedoch ein faden Beigeschmack: Ist man anfangs ganz entzückt vom Vintageflair, überkommt einem später das Gefühl, dass Burton trotz Bestreben nach Authentizität, das Wesentliche nicht begriffen hat. Morricone und Co. verstanden ihre anfänglichen Soundtracks als Experimentierflächen, auf denen sich romantische Klassik mit avant-gardistischen Elementen vermischte. Bei Burton begegnen wir nur Romantik. Der Gestus ist sehr nobel, das Resultat lässt den Hörer jedoch gleichgültig. Das gleiche Problem bestand bei „The Last Shadow Puppets“, einem Nebenprojekt von Alex Turner, Frontmann und Mitbegründer der britischen Indie-Rock-Band Arctic Monkeys und Miles Kane, Sänger bei „The Rascals“. Letztere versuchten mit einem Solo-Album die Mod-Kultur wiederzubeleben. Genau wie der Leadsänger „Faris Badwan“ der englischen alternativen Rockband „The Horrors“: Er erschuf das Duo „Cat‘s Eyes“. Diese Band verarbeitet die Musik zu den Italo-Western subtiler, bleibt im Großen und Ganzen aber sehr starker Referenzpop, der Einflüsse aus den 1960ern bis heute ausschöpft. Referenzüberladene Musik treffen wir seit geraumer Zeit in allen Genres. Der Radiomoderator Klaus Walter spricht in dem Zusammenhang vom Vintage-Kalkül und zitiert in diesem Kontext das Buch „Retromania“ des englischen Autors Simon Reynolds. Dieses Urteil ist auch auf oben genannte Bands locker übertragbar. Wieso aber klingen heute Musiker unter 25 Jahren wie Musiker vor dreißig, vierzig Jahren? Liegt es am musikalischen „Überangebot“ durch Web 2.0 oder liegt es doch an einer elitären Attitüde gegenüber der Musik? Wissen tut es niemand, darüber nun zu philosophieren sprengt den redaktionellen Rahmen.
Tom Dockal moderiert jeden Freitag von 14 bis 16 Uhr die Sendung „Lost in Music“ auf Radio Ara. An dieser Stelle berichtet er regelmäßig über kuriose und hörenswerte Musik aus seiner Sendung.


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