SCHULSYSTEM: This is not Magrip

In Luxemburg bestimmt ein Schulabschluss mehr als in anderen Ländern den beruflichen Erfolg im Erwachsenenalter, so die Autoren der Magrip-Studie. Für die heutige Generation trifft diese Feststellung nicht mehr uneingeschränkt zu.

This is not Magrip –
die Langzeitstudie Magrip bietet sich an, um die Auswirkungen des Schulsystems in Luxemburg zu verstehen. Jedoch dürfen dabei die sich wandelnden Arbeitsmarktverhältnisse nicht außer Acht
gelassen werden.

„Für die Bildungsforschung in Luxemburg ist Magrip ein mythisches Akronym, da die Untersuchung eine der ersten großen Bildungsstudien war, von deren Ergebnissen wir auch noch heute profitieren können“, erklärt Romain Martin, Leiter der Studie und Mitglied der Forschungseinheit „Educational Measurement and Applied Cognitive Science“ (EMACS) der Universität Luxemburg.

In dieser Woche wurde an der Uni in Walferdange ein weiteres Follow up der Magrip-Studie vorgestellt, die nun insgesamt einen Zeitraum von über vierzig Jahren abdeckt. Es war im Jahre 1968, als rund 2.800 Luxemburger Sechstklässler von Studenten des IP (Institut Pédagogique) das erste Mal befragt wurden: Neben dem sozialen Hintergrund (Muttersprache, Beruf der Eltern, Wohnungsbedingungen etc.) wurden schulische Charakteristika (Notendurchschnitt, schulisches Engagement, Nachsitzen, Einschätzung des Schülers durch den Lehrer) und kognitive Elemente, ermittelt durch Intelligenztests, berücksichtigt. Zum Schluss wurden auch Persönlichkeitsmerkmale (Berufs- und Karrierewunsch etc.) festgehalten. „Die Studie war damals eine große Leistung, da es noch keine Methodologie im Bereich der Sozialforschung in Luxemburg gab und keine technischen Hilfsmittel, wie Computer, zur Verfügug standen“, erläutert Lucien Kerger von der Uni-Luxemburg, der in den 1980er Jahren mit der Auswertung der Magrip-Untersuchung befasst war. Die Studie, deren Name soviel wie „Matière Grise perdue“ bedeutet, war zu der Zeit nicht die einzige zum Thema: 1966 erschien in den USA der „Coleman- Report“, der die Leistungen von über 600.000 SchülerInnen der Primar- und Sekundarstufe analysierte und zu heftigen Kontroversen in Kreisen der amerikanischen Sozial- und Erziehungswissenschaften führte, ein Jahr später wurde in England der Plowden Report über die Schulleistungen der Grundschüler publiziert. „Im Mittelpunkt der Magrip-Studie, deren erste Phase den Zeitraum von 1968 bis 1976 umfasste, standen die Bildungswege der GrundschülerInnen bis zum Abschluss in der Sekundarstufe. Ihr Ziel war, die Determinanten von Schulkarrieren luxemburgischer Schüler festzustellen“, so Kerger.

Damals zeigten die Ergebnisse der Studie klar auf, dass zahlreiche SchülerInnen aus sozioökonomisch schwachen Familien nach der Grundschule nicht auf weiterführende Schulen wechselten, obwohl sie über die notwendigen geistigen Ressourcen verfügten und gute Leistungen in der Schule erzielten.

Die zweite Phase von Magrip, die den Zeitraum von 1968 bis 1984 und rund 200 ehemalige SchülerInnen, nun Erwachsene im Alter von 28 Jahren, umfasst, ergab vor allem, dass der schulische Bildungsweg die berufliche Situation dieser Menschen stark prägte: Wer eine höhere Schule besucht hatte, war auch beruflich erfolgreicher.

2008 wurde in Kooperation mit dem Forschungszentrum CEPS/ INSTEAD eine weitere, vom „Fonds National de la Recherche Luxembourg“ (FNR) finanzierte Ausweitung der Magrip-Studie in Angriff genommen: Rund 750 Kinder von damals wurden nach 40 Jahren ausfindig gemacht und erneut befragt. Zentrales Anliegen war bei diesem Mal, zu analysieren, wie die sozio-kognitiven Merkmale und jeweiligen Bildungswege der zwölfjährigen SchülerInnen ihr Leben als Erwachsene bis zum Alter von 52 Jahren beeinflusst hatten.

Höhere Bildungs-
abschlüsse eröffnen bessere Chancen

Die Autoren der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass in Luxemburg eine stark determinierende Beziehung zwischen dem Bildungsniveau und dem sozio-ökonomischen Status im Erwachsenenalter bestand. Dieses Resultat steht im Gegensatz zu den Befunden in angelsächsischen Ländern, wo sich die kognitiven Fähigkeiten im Fortschreiten des Berufslebens zunehmend auf den beruflichen Werdegang auswirken und verpasste Bildungsabschlüsse kompensiert werden können.

Die Feststellung einer ausgeprägt geradlinigen beruflichen Laufbahn, bei der das Bildungsniveau der dominierende Faktor des erreichbaren sozialen Status im höheren Erwachsenenalter ist, betrifft insbesondere die Männer mit hohem sozio-ökonomischen Hintergrund. Es gelang dem Luxemburger Schulsystem demnach nicht, alle talentierten SchülerInnen im selben Maß zu fördern: Besonders Mädchen besuchten nach der Grund- und Sekundarschule keine weiterführenden Schulen mehr, obwohl sie das notwendige geistige Potential besaßen. Ihr beruflicher Werdegang wurde zudem durch Geburt und Kindererziehung häufiger unterbrochen.

Auch den Gesundheitszustand der heute 50-Jährigen evaluierten die Autoren im Rahmen der Magrip-Studie und kommen zu dem Ergebnis, dass kognitive Fähigkeiten im Kindesalter die medizinische, funktionale und subjektive Gesundheit im Erwachsenenalter statistisch bedeutsam beeinflussen: Höhere Bildungsabschlüsse eröffnen die Chance, nicht nur geistig leistungsfähiger und beruflich erfolgreicher, sondern auch gesünder zu sein, so die Autoren.

Aus ihren Ergebnissen leiten die Autoren eine Reihe von Empfehlungen für das Bildungssystem ab. So schlagen sie vor, die schulischen Orientierungsentscheidungen zu optimieren, um zu verhindern, dass der sozioökonomische Familienhintergrund eine Rolle bei der Übertrittsempfehlung spielt. Dazu sollten beim Kompetenzprofil der SchülerInnen visuell-räumliche Fähigkeiten stärker berücksichtigt werden. Die Reformbemühungen des Bildungssystems dürften nicht bei der Schule haltmachen, sondern müssten zusätzliche berufliche Qualifikationsmassnahmen (zweiter Bildungsweg im Erwachsenenalter) über die Lebensspanne der Schule hinaus berücksichtigen und Personen aus sozioökonomisch schwachen Bevölkerungsgruppen einbeziehen. Die Benachteiligung der Frauen werde am wirkungsvollsten durch die Schaffung weiterer Kompensationen für die durch die Mutterrolle erzwungenen beruflichen Unterbrechungen bekämpft.

„Erst eine erfolgreiche Beteiligung an den Bildungsprozessen ermöglicht auch die effektive Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben“, so das Fazit der Autoren. Die Magrip-Studie habe klar gezeigt, dass das erreichte schulische Bildungsniveau die prägende Größe für den später erreichten sozioökonomischen Status darstellt. Sie liefere also den empirischen Nachweis, dass SchülerInnen in der Schule tatsächlich für das Leben lernen.

Diese Schlußfolgerung – nur der Abschluß zählt – scheint heute jedoch nicht mehr zuzutreffen, zumindest nicht uneingeschränkt. Ausgeblendet wurden von den Autoren die Gesetzmässigkeiten eines sich verändernden und hart umkämpften Arbeitsmarktes, der trotz erfolgreicher Beteiligung an Bildungsprozessen vielen keine Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben ermöglicht. Während vor dreißig Jahren ein guter Schulabschluß tatsächlich den Grundstein für einen erfolgreichen beruflichen Werdegang legte, nimmt heute der Arbeitsmarkt den entsprechenden Personenkreis einfach nicht mehr zur Gänze auf. Vor dreißig Jahren gab es selbst bei niedriger Qualifikation irgendwo eine Anstellung. Heute bleiben sehr viele Menschen mit niedriger Qualifikation – aber auch viele mit hoher Qualifikation auf der Strecke. Ein Schulabschluss ist längst nicht mehr alleiniger Garant des Erfolgs. Der Markt diktiert den Berufszweig; daneben sind Sprachkenntnisse, Praktika, Berufserfahrung und gute Kontakte notwendig, um überhaupt Chancen zu haben.

Letztlich stellt Magrip die Evaluation einer bestimmten Generation dar, die noch über genügend Arbeitsplätze verfügte, ihre Sozialabgaben bezahlen konnte und infolgedessen ihrer Rente sicher ist. Was folgt daraus für künftige Magrip-Langzeitstudien? Sie können sicher helfen, die Auswirkungen des luxemburgischen Schulsystems zu verstehen und so zu dessen Verbesserung beitragen – wenn sie jedoch auch für die jetzige Generation relevant sein wollen, dürfen sie nicht die Augen vor den sich wandelnden Arbeitsmarktverhältnissen verschließen.


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