BILDUNG: Hausaufgabe: Argumentieren

Das Unterrichtsministerium will die Hausaufgaben reduzieren und erntet dafür heftige Proteste. Die Debatte um den Sinn des Büffelns kommt bei aller Polemik aber zu kurz.

Zwei Bücher lesen und zusammenfassen, eins in Deutsch und eins in Französisch. So lautete die Hausaufgabe, die ein elfjähriger Schüler im März dieses Jahres mit in die Osterferien nahm. Seine MitschülerInnen mussten ihre Nasen ebenfalls in Bücher stecken statt sich vom Schulstress zu erholen. Damit soll künftig Schluss sein. „Aucun travail ne peut être imposé aux élèves pour les périodes de vacances“, schreibt Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres unmissverständlich im diesjährigen Frühjahrsbrief, dem ersten seit Amtsantritt. Auch das Wochenende habe hausaufgabenfrei zu bleiben. Erst- und Zweitklässler dürfen sich sogar über ein prinzipielles Verbot schriftlicher Hausarbeiten freuen.

Die ministerielle Anweisung an das Lehrpersonal der Luxemburger Grundschulen kommt einer kleinen Revolution gleich. Noch im vergangenen Jahr waren Hausaufgaben für SchülerInnen aller Altersklassen obligatorisch. „L’apprentissage ne peut se faire correctement sans la répétition par les exercices à la maison“, hatte die vorige Unterrichtsministerin Anne Brasseur (DP) insistiert – Ansichten, die im LSAP-geführten Ministerium nunmehr offenbar als überholt gelten. Die Entscheidung der Ministerin in Sachen Hausarbeiten entspreche „dem aktuellen Stand der Wissenschaft“, antwortet Robert Brachmond, im Ministerium zuständig für die Primärschulen, auf die Nachfrage der woxx, was denn die pädagogische Begründung für den Kurswechsel sei.

Seit Jahren machen sich weltweit ErziehungswissenschaftlerInnen Gedanken über Sinn, Zweck und Wirkungsweise von Hausaufgaben. Doch der Befund deutscher Bildungsexperten über die Beziehung zwischen Hausarbeiten und schulischem Erfolg, auf den sich der zuständige Ministerialbeamte beruft, fällt keineswegs eindeutig aus. Die Wissenschaftler Olaf Köller und Ulrich Trautwein, die zahlreiche Studien zum Thema Hausaufgaben analysiert und auf ihre Plausibilität hin untersucht haben, kommen zu dem Schluss, dass die „Beziehung zwischen Hausaufgaben und persönlichem, schulischen Erfolg“ noch immer nicht ganz verstanden sei.* Die aktuelle empirische Basis reiche nicht einmal aus, um so grundsätzliche Fragen wie „Fördern Hausaufgaben den schulischen Erfolg?“ ein für alle Mal zu beantworten.

Wirksamkeit umstritten

Wer sich daraus einen Grund für die Abschaffung von Hausarbeiten zimmert, liegt demnach ebenso richtig oder falsch, wie der- oder diejenige, die behauptet, Lernfortschritte seien ohne Pauken am heimischen Schreibtisch undenkbar.

Die sozialistische Ministerin Delvaux-Stehres hat ihre Maßnahme insbesondere mit der sozialen Ungerechtigkeit begründet, die mit der Verlagerung von Schulaufgaben in die eigenen vier Wände einhergehe. Dass SchülerInnen, deren Eltern aus Zeitgründen oder wegen eigener Wissenslücken nicht bei den Schulaufgaben helfen können, in der Schule nicht so gut mitkommen wie jene, die von ihren Eltern unterstützt werden, dafür spricht in der Tat einiges. „Hausaufgaben verstärken akademische Unterschiede zwischen Familien der Mittelschicht und der Arbeiterklasse, weil mittelständische Eltern eher bei den Hausarbeiten helfen“, schreibt Richard Rothstein über den Zusammenhang von sozio-kulturellen Hintergründen und schulischen Erfolg.** Neben materiellen Gründen – viele Eltern haben kein Geld, um sich Nachhilfe zu leisten oder zu kleine Wohnungen, um ihren Kindern eine ruhige Ecke zum Lernen zu geben – verweist der Professor des Columbia University’s Teachers College auch auf Differenzen im Umgang mit dem Lernen. Mütter und Väter aus niedrigen Einkommensschichten ermutigen ihre Kinder insgesamt weniger, für die Schule zu pauken – eine Beobachtung, die auch viele Eltern und LehrerInnen in Luxemburg machen, die bislang aber nie systematisch analysiert und ausgewertet wurde.

Allgemeine Verunsicherung

Kein Wunder, dass Eltern und Lehrpersonal verunsichert sind und sich fragen, ob die ministerielle Anweisung eher ideologisch motiviert ist oder aber ob gute Gründe für die geplante Reduzierung sprechen. Eine ausführliche Debatte über den pädagogischen Sinn und Zweck von Schulaufgaben, über die Rolle der Schulen in einer sich wandelnden Gesellschaft, in der immer öfter beide Eltern berufstätig sind und das Phänomen der Ein-Eltern-Familien zunimmt, hat es hier zu Lande bisher nicht gegeben. Hinzu kommt, dass sich auch BildungsexpertInnen nicht ganz einig darüber sind, wie Leistungsschwächen bei SchülerInnen, deren Mütter und Väter die hiesigen Sprachen kaum sprechen, wirksam gemildert werden können. Immerhin eins scheint zunehmend klar: Um soziale Unterschiede auszugleichen, braucht es umfassende, qualitativ hochwertige Erziehungsangebote für alle von frühester Kindheit an. Die aber sind teuer und waren – zumindest bisher – politisch nicht erwünscht.

„Wir müssen die Schüler da abholen, wo sie sind“, betont Michèle Retter. Die Präsidentin vom Elterndachverband Fapel ist nicht per se gegen Hausaufgaben, begrüßt es aber, dass diese stärker in die Schulen hinein verlagert werden sollen.

Doch selbst wenn sich der erste Unmut über den abrupten Richtungswechsel bald legen sollte – die Umsetzung der neuen Richtlinie dürfte noch aus anderen, pragmatischen Gründen schwierig werden. Lehrergewerkschaften klagen seit Jahren über zu volle Stundenpläne. Nicht selten kommt es vor, dass überforderte LehrerInnen Kindern Aufgaben mit nach Hause geben, die sie eigentlich im Unterricht abhandeln sollten. Eltern würden so als Hilfslehrer missbraucht, kritisiert die Fapel. Für das Üben und das Vertiefen von bereits Gelerntem, nach Ansicht vieler PädagogInnen der eigentliche Zweck von Hausaufgaben, bleibt da kaum Zeit mehr übrig.

„Die Programme müssen entlastet werden“, fordert die DP-Politikerin Anne Brasseur, und zumindest in diesem Punkt hat die Hausaufgaben-Verfechterin Recht. Die angekündigte Entschlackung der Curricula lässt jedoch auf sich warten – und die neue Hausaufgabenregelung gilt ab sofort. Dass Hausaufgaben nach den jeweiligen Fähigkeiten eines Schülers zu bemessen sind, wie es im Frühjahrsbrief heißt, ist eigentlich eine pädagogische Selbstverständlichkeit. Doch in den meisten Schulen Luxemburgs ist Differenzierung nach wie vor ein Fremdwort: Viele Lehrkräfte wissen nicht, wie sie das machen sollen.

Aus für kommunale Hilfsangebote?

Wie weit die Verunsicherung reicht, zeigen auch die Reaktionen auf kommunaler Ebene. „Wir wissen nicht, was die Vorgaben im Einzelnen für uns bedeuten“, sagt Nicole Gorza von der „structure d’accueil“ in Beckerich. Lernschwache Kinder können dort, wie in 23 anderen Gemeinden auch, nachmittags mit Hilfe von ErzieherInnen ihre Schularbeiten erledigen. Die Einschätzung des Escher Schulkommissars Jean Klein, die Regelung bedeute „das Aus für die Hausaufgabehilfe in den beiden ersten Schuljahren“, teilt die Beckericher Einrichtung aber nicht. „Wir werden wahrscheinlich unsere Angebote im Sport- und kreativen Bereich ausbauen“, ist Gorza optimistisch. Die neue Situation sei „eine Chance, verstärkt in die Tiefe zu gehen“, schließlich gebe es auch in Zukunft Kinder mit Schulschwierigkeiten. Das dürfte im Sinne der Ministerin sein. Sie hat in ihrer „circulaire“ die Kommunen ausdrücklich dazu ermutigt, die außerschulischen Angebote auszubauen. Aber wie verträgt sich das mit der Idee, die Schulen stärker in die Verantwortung zu nehmen? Müsste es im Sinne von mehr Chancengerechtigkeit nicht heißen: Ganztagsschulen und Tageskindergärten für alle, statt die kostenpflichtige Betreuung außerhalb der Schule zu erweitern?

Diese grundsätzlichen Fragen hat Delvaux-Stehres bisher nicht beantwortet. Insofern wird sie sich die Kritik an einer ungenügenden Kommunikation, wie sie derzeit von fast allen Parteien geäußert wird, gefallen lassen müssen. Ohne nachvollziehbare ausführliche Erklärungen, warum und wie Lehrkräfte, ErzieherInnen und Eltern das neue Konzept umsetzen sollen, dürfte mit der Hausaufgaben-Tradition kaum zu brechen sein. Wie hat die Ministerin auf einer Veranstaltung selbst einmal treffend gesagt: „Um etwas zu lernen, muss ich es auch verstehen.“

* Olaf Köller und Ulrich Trautwein, „The Relationship Between Homework and Achievement – Still Much of a Miystery“, Educational Psychology Review Nr. 15, Juni 2003.

** Richard Rothstein, „Even the Best Schools Can’t close the Race Achievement Gap“, Poverty & Race, September 2004.


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