TUNESIEN: Schwieriger Neubeginn

Die islamistische Ennahda-Bewegung ist als stärkste Kraft aus den ersten freien Wahlen in Tunesien hervorgegangen. Noch ist es zu früh, deren politischen Kurs genauer bestimmen zu können. Die hohe Wahlbeteiligung kann indes als gutes Zeichen gewertet werden. Auch die säkularen Strömungen des Landes bleiben aktiv.

Das war erst der Anfang: Bereits in einem Jahr wird, wenn alles wie vorgesehen läuft, auf der Grundlage der neuen Verfassung und neuer Wahlgesetze erneut gewählt.

Es rumort vor dem Kongresspalast in der Avenue Mohamed V. Das Gebäude ist mit einem großen Transparent mit Aufschriften wie „Menschenrechte“ und „Demokratie“ behängt, drinnen hat die tunesische Wahlkommission anlässlich der ersten freien Wahlen im Land ein Medienzentrum für die aus aller Welt angereisten Journalisten eingerichtet. Am Dienstag nach den Wahlen haben sich etwa 500 bis 600 Linke und Säkulare, darunter viele junge Frauen, in dem kleinen Park gegenüber von dem Kongresspalast versammelt. Sie halten selbst gemalte Schilder in die Höhe, auf denen Slogans zu lesen sind wie: „Wir wenden uns nicht gegen eine Partei, sondern gegen Wahlbetrug“, „Wenn sie die Wahlen manipulieren, bevor sie an der Macht sind, was werden sie erst machen, wenn sie die Macht haben?“, „Never give up the fight“ oder, in Anspielung auf die Platzbesetzungen in den Vereinigten Staaten und Europa, auch einfach: „occupy“. Einige stimmen die Internationale an. „Haben wir die Revolution gemacht, um von Islamisten regiert zu werden?“ ist die rhetorische Frage einer jungen Frau. Am 14. Januar war nach wochenlangen Demonstrationen und Streiks trotz harter Repression mit etwa 300 Toten der autoritäre Herrscher Ben Ali ins Exil nach Saudi-Arabien geflohen. Das war der Auslöser für die Revolten in der sogenannten arabischen Welt, die Ägypten, dann Libyen und Bahrain, den Jemen und Syrien erfassten.

Der Schock ist groß bei vielen tunesischen Linken und Säkularen. Der islamistischen Ennahda-Bewegung werden etwa 40 Prozent der Stimmen prognostiziert, sie ist jedenfalls als stärkste politische Kraft aus den Wahlen hervorgegangen. Aber auf der Demonstration kann sich kaum jemand vorstellen, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen ist. Mit ihren großen finanziellen Mitteln, die von wohlhabenden Geschäftsleuten, möglicherweise auch aus den Emiraten stammen, habe Ennahda Stimmen gekauft, sie habe trotz Verbots am Wahltag weiter ihre politische Propaganda betrieben und Wähler eingeschüchtert ? das sind die Vorwürfe, die immer wieder zu hören sind. Die Wahlkommission hat jedoch bereits erklärt, die Wahlen seien im Großen und Ganzen fair verlaufen, die Unregelmäßigkeiten, die vorgekommen seien, hätten keinen entscheidenden Einfluss auf den Wahlausgang gehabt.

Die Wahlbeteiligung war hoch. Von über sieben Millionen Wahlberechtigten gingen am vergangenen Sonntag deutlich mehr als 60 Prozent an die Wahlurnen, ein gutes Zeichen für die ersten freien und pluralistischen Wahlen in dem Land, und auch im Ausland votierten viele der dort lebenden Tunesierinnen und Tunesier. Aus der Wahl wird eine aus 217 Mitgliedern bestehende konstituierende Nationalversammlung hervorgehen, aber auf der Grundlage einer Parteienvereinbarung ist ihr Mandat auf ein Jahr begrenzt. Die Nationalversammlung fungiert als Parlament und wird einen provisorischen Präsidenten wählen, der eine Übergangsregierung einsetzt. Außerdem wird die Nationalversammlung eine Verfassung ausarbeiten, über die möglicherweise in einem Referendum abgestimmt wird. Nach einem Jahr wird dann, wenn alles wie vorgesehen klappt, auf der Grundlage der neuen Verfassung und neuer Wahlgesetze erneut gewählt.

Aus der Wahl geht eine konstituierende Nationalversammlung hervor ? ihr Mandat ist auf ein Jahr begrenzt

Die erstaunlich hohe Anzahl von Stimmen für Ennahda ist ein harter Schlag für den „Pôle démocratique et moderniste“ (PDM), ein Bündnis, das sich rund um die Bewegung Ettajdid, die ehemalige tunesische kommunistische Partei, die sich nach 1989 sozialdemokratisierte, gebildet hat. Der PDM hat eine säkulare, feministische Kampagne geführt, um ein Gegengewicht zu Ennahda und dem Islamismus in Tunesien zu bilden.

In einer kleinen, weiß getünchten Villa mit den braunen Fensterrahmen nahe der Place Pasteur in Tunis, dem Hauptquartier des PDM, herrscht wildes Gedränge. Im Eingangsbereich stapeln sich noch die Überreste des Wahlkampfs: Flyer, Plakate, Broschüren, Transparente, auch ein paar leere Pizzaschachteln. Aber die Stimmung könnte besser sein.

Jounaidi Abdeljaoued, der Sprecher des PDM und einer der Sekretäre der Ettajdid, sieht wenig zufrieden aus, als er die vorläufigen Wahlergebnisse vor sich liegen hat. Das Bündnis beschreibt er als einen Zusammenschluss von eher staatszentrierten Linksparteien und von Unabhängigen, die für Freiheits- und Bürgerrechte eintreten, um die Errungenschaften in Tunesien, insbesondere die weitgehende Gleichheit zwischen Männern und Frauen, zu bewahren. Es gehe um die Konkretisierung der Ziele der Revolution ? die ihm zufolge Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit und Bürgerrechte sind ? und universelle Werte.

Den Erfolg von Ennahda erklärt er damit, dass sie es geschafft habe, Angst vor den laizistischen Kräften zu schüren, indem sie behauptete, diese wollten die Religion abschaffen oder seien für Drogen und Homosexualität. Zudem agiere Ennahda doppelzüngig, sie präsentiere sich mal als gemäßigt, mal als fundamentalistisch.

Ein Problem des PDM, dem etwa acht Prozent der Stimmen prognos-tiziert werden, sieht Abdeljaoued
darin, dass andere säkulare Parteien, die angesprochen worden seien, sich dem PDM nicht angeschlossen haben, um statt dessen unter einem eigenen Label bei den Wahlen anzutreten.

Zu diesen Parteien gehört die Progressive Demokratische Partei (PDP), die mit rund zehn Prozent der Stimmen eine schwere Niederlage erlitt, was sie am Montag auch eingestand. Die PDP ist die einzige tunesische Partei, die eine Frau als Parteichefin hat, Maya Jibri. In den vergangenen Monaten hatten Umfragen die PDP als eine der möglicherweise stärksten politischen Kräfte im Lande gehandelt und Parteigründer Nadjib Chébi als aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten genannt. Dann folgte der Absturz. Vielleicht ist es der Partei zum Verhängnis geworden, dass ihr in den vergangenen Monaten viele frühere Mitglieder der – im März gerichtlich verbotenen – ehemaligen Staatspartei RCD beigetreten sind, auch wenn die PDP sagt, es handele sich lediglich um die „nicht Diskreditierten“. Jedenfalls hat sie einen Wahlkampf gegen Ennahda geführt und will nun ein Bündnis mit dem PDM eingehen.

Dem PDM verweigert hat sich auch die sozialdemokratische Ettatakol von Mustapha Ben Jafaar, die sich aber alle Optionen auf Allianzen, auch mit Ennahda, offen gehalten hat. Mit etwa 20 Prozent liegt die Ettakatol wohl auf dem zweiten Platz nach Ennahda. Ein Indiz dafür: Am Dienstagabend vermeldete die Nachrichtenagentur AFP, Jafaar werde alsbald seine Kandidatur für die Präsidentschaft ankündigen. Ein ähnliches Ergebnis wie Ettatakol kann der linksnationalistische „Kongress für die Republik“ (CPR) von Moncef Marzouki erwarten, der sich einem Bündnis mit Ennahda aufgeschlossen gezeigt hat. Das trifft auf Gegenliebe: Ennahda erklärte am Montag, sie sei bereit, mit dem CPR und Ettakol eine Allianz einzugehen.

Aber auch drei Listen, die von früheren Ministern des RCD geführt wurden, erhielten zusammen wohl über 15 Prozent – eine Staatspartei, die ein bis zwei Millionen Mitglieder hatte, verschwindet nun mal nicht innerhalb einiger Monate spurlos. Mit mindestens einem Sitz in der Nationalversammlung hat die Kommunistische Partei der Arbeiter Tunesiens (PCOT), die früher maoistisch und pro-albanisch orientiert war, zumindest einen Achtungserfolg errungen.

Eine Überraschung stellten die Listen dar, die von dem Millionär Hechmi Hamdi unterstützt werden. Hamdi ist ein ehemaliger Islamist, der dann Ben Alis Regime unterstützte; er wurde über seinen Fernsehkanal al-Mostakilla, der via Satellit aus London sendet, in Tunesien bekannt. Insbesondere in Sidi Bouzid, wo die tunesische Revolte im Dezember ihren Ausgang nahm, hat Hamdi gut abgeschnitten.

Es ist also ein buntes Mosaik aus Parteien, Bewegungen und Listen, die in der Nationalversammlung präsent sein werden, ein Zeichen dafür, dass sich seit dem Sturz Ben Alis in Tunesien einiges getan hat ? ein bislang unbekannter politischer Pluralismus ist entstanden. Aber eine Frage bleibt: Wie kommt das erstaunlich hohe Wahlergebnis von Ennahda zustande?

Ennahda verfügt über große Finanzmittel und ein weit gespanntes organisatorisches Netz von Mitgliedern. Sie hat sich zu Recht als die politische Kraft dargestellt, die unter Ben Ali vor allem in den Neunzigerjahren am härtesten verfolgt wurde: 30.000 politische Gefangene, unzählige Folteropfer, Tote bei Hungerstreiks. Und sie dürfte vor allem davon profitiert haben, dass es in der tunesischen Gesellschaft keine klassisch konservative politische Kraft gibt, was es ihr ermöglichte, alles einzusammeln, was irgendwie konservativ ist, insbesondere bei der Landbevölkerung.

Im Unterschied etwa zu der algerischen islamistischen Bewegung des Fis zu Beginn der Neunzigerjahre befleißigte sich Ennahda im Wahlkampf keiner „revolutionären“ Rhetorik, sondern betonte eher ihre Verpflichtung gegenüber demokratischen Vorgehensweisen, erklärte auch nach der Wahl, die Rechte von Frauen und Minderheiten respektieren zu wollen.

Ennahda setzt sich aus einem eher moderaten und einem fundamentalis-tischen Flügel zusammen. Vor den Wahlen hat sie den Salafisten – die sich durch zahlreiche gewalttätige Übergriffe auf Synagogen, Prostituierte, säkulare Kulturschaffende profilierten, zuletzt wegen der Ausstrahlung des Films „Persepolis“ – Avancen gemacht, um deren Stimmen einzusammeln. Vincent Geisser, ein französischer Wissenschaftler, bezeichnet in einem Chat mit Lesern der französischen Zeitung „Libération“ Ennahda als „ultrakonservativ“ und „Partei der Ordnung“. Offiziell erkenne sie „eine gewisse Trennung“ von Religion und Staat an. Er denke nicht, dass die Partei wirklich „eine islamische Theokratie anstrebe, sondern eine Form von pluralistischem Regime, das von sehr starken Bezügen auf die ?islamité` geprägt“ sei. Das überraschend hohe Wahlergebnis von Ennahda beweise, dass „die konservativen Bestrebungen in der tunesischen Gesellschaft sehr stark bleiben“.

Aber es gibt auch Gegentendenzen. Die starke tunesische Frauenbewegung etwa, die seit Februar Proteste gegen die teils gewalttätigen Übergriffe der Salafisten auf Synagogen, Bordelle und Prostituierte organisierte, die Gewerkschaftsbewegung, die mit großen Streiks entscheidend zum Sturz Ben Alis beitrug und die in der Folgezeit in den Betrieben für den Rausschmiss von regimenahen korrupten Direktoren sorgte. Zuletzt, eine Woche vor der Wahl, hatten nach einer Demonstration wegen der Ausstrahlung des Films „Persepolis“, etwa 100 Salafisten das Haus desjenigen gebrandschatzt, der in ihren Augen für die Ausstrahlung verantwortlich war: der Chef des Senders Nesssma TV, in dem der Film ausgestrahlt wurde. Einige Tage später kam die Reaktion. Eine Demonstration mit 2.000 bis 3.000 Beteiligten. Organisiert nur über die sozialen Netzwerke, ohne Parteien. Da war sie wieder – die „Facebook-Jugend“, mit der alles angefangen hatte.

Bernd Beier ist Redakteur der Berliner Wochenzeitung „Jungle World“ und derzeit in Tunesien auf Reportagereise.


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