NIEDERLANDE: Parteipolitischer Swingerclub

Nach dem Scheitern der Rechts-Regierung unter Duldung von Geert Wilders‘ Partei PVV erklingt im holländischen Parlament das Lied der goldenen Mitte. Doch der Kompromiss wird nicht von langer Dauer sein. Die PVV schärft derweil ihr soziales Profil.

Leider viel zu selten: Geert Wilders mit geschlossenem Mund.

Es wird eng in der Mitte: Markt- und Linksliberale, Grüne, Christdemokraten und Sozialcalvinisten, alle drängen sich in diesem Frühling im Zentrum des politischen Spektrums der Niederlande. Die Mitte ist dieser Tage der „place to be“ in Den Haag, dort findet sich das Rezept gegen die Haushaltsmisere wie auch gegen die unverhohlenen Drohungen der Rating-Agenturen. „Aus der Mitte heraus reformieren wir das Land“, verkündete daher Alexander Pechtold, Fraktionsvorsitzender der linksliberalen Partei „Democraten66“, Ende April. Es klang euphorisch, als entstünde in den Niederlanden ein neues, visionäres Gesellschaftskonzept.

In Wirklichkeit jedoch hatten die fünf beteiligten Parteien lediglich einen Haushaltsentwurf für das kommende Jahr verabschiedet. Mit ihm soll es gelingen, die Neuverschuldung unter die Drei-Prozent-Marke zu drücken, wie vom Europäischen Stabilitätspakt vorgeschrieben. Erleichterung machte sich breit. „Historisch“ nannte die Tageszeitung „Volkskrant“ den Kompromiss, der in Windeseile zustande gekommen war. Die Zeit drängte, denn bis zum letzten April musste der Entwurf der EU-Kommission vorliegen. Nur wenige Tage zuvor war die Rechts-Regierung von Premier Mark Rutte nach zweimonatigen Verhandlungen an diesem Projekt gescheitert. Der populistischen Partij voor de Vrijheid (PVV), von deren Unterstützung sie abhing, gingen die Sparpläne zu weit.

Die geradezu euphorischen Reaktionen auf den Last Minute-Haushaltsentwurf erklären sich durch die Rahmenbedingungen. Die Niederlande nämlich steuerten nicht nur auf ein massives Defizit von gut viereinhalb Prozent zu, sondern auch auf ein saftiges Milliardenbußgeld aus Brüssel. Auch die Rating-Agenturen hatten ein Auge auf das Land geworfen, die Anleihezinsen stiegen, der Verlust der Top-Bonitätsrate AAA droht nach wie vor. Wie sich solche Szenarien womöglich weiter entwickeln, ist aus dem Süden der Eurozone bekannt, aber auch aus dem Nachbarland Belgien, das im Herbst ganz ähnlich in der Bredouille saß. Die Aussicht, in dieser Lage nicht nur ohne tatkräftige Regierung, sondern auch ohne Haushaltsplan da zu stehen, ließ zwischenzeitlich Panik in Den Haag aufkommen.

Dass die Krise nun auf die Niederlande über zu greifen droht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schließlich waren Premier Mark Rutte und Wirtschaftsminister Jan Kees de Jager in ihrer kurzen Amtsperiode ein allzeit getreuer Sidekick der Austeritäts-Zuchtmeister aus Berlin, die die strauchelnden Länder im Süden der Union Haushaltsdisziplin lehren wollten. Die Haager Turbulenzen entziehen nebenbei einer recht beliebten Krisen-Analyse den Boden: nämlich dem Merkel´schen Bild der urlaubsfreudigen Griechen und Portugiesen, die sich ihre Probleme selbst zuzuschreiben hätten. Wer aber solchen Interpretationen anhängt, müsste gemäß der eigenen kulturalistischen Vorurteile die nüchternen Calvinisten doch eigentlich für resistenter halten.

Immerhin entsprechen die Gegenmaßnahmen dem Stereotyp: schnelles, unsentimentales Sparen ist angesagt. Die „Reform aus der Mitte“ bringt unter anderem eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters ab 2013, eingefrorene Gehälter im öffentlichen Dienst, mehr Eigenbeitrag zu den Gesundheitskosten und einen Anstieg des höheren der beiden Mehrwertsteuersätze von 19 auf 21 Prozent. Doch der Haushaltsplan bedeutet auch eine inhaltliche Neujustierung. Einige Sparmaßnahmen der bisherigen Minderheitsregierung werden dafür zurückgenommen: der Mehrwertsteueraufschlag im Kunstbereich sowie Kürzungen in Entwicklungshilfe und Bildung. Deutlich ist auch ein ökologischer Akzent mit Vergünstigungen für den Kauf von Solarsystemen oder einer Extra- Abgabe auf Kohlekraftwerke. Auch das Budget für Naturschutzmaßnahmen soll erhöht werden.

Das vorläufige Fazit ist deutlich: die Verhältnisse in Den Haag sind kräftig in Bewegung geraten. Das Modell einer Minderheitskoalition von Gnaden der PVV und ihrem Vormann Geert Wilders hat sich überholt. Übrig geblieben ist ein parteipolitischer Swingerclub, in dem sich das Geflecht potenzieller Koalitionäre deutlich anders darstellt als noch vor einigen Wochen. Der neue Kompass dabei heißt: Austerität. Die Bereitschaft zur Haushaltsdisziplin, im Interesse des Landes, wie es allenthalben heißt, ist zum allgemeinen Schlüsselreiz geworden.

Außen vor bleiben dabei bislang nur die Sozialisten (SP) und die sozialdemokratische „Partij voor de Arbeid“ (PvdA), die den Entwurf unsozial nennen, sowie eben die rechtspopulistische PVV. Überraschend ist nicht: die SP plädiert seit Jahren dafür, „die Lasten der Krise anders zu verteilen“, und die Sozialdemokraten, latent zwischen Reform und Tradition schwankend, haben zuletzt einmal mehr das eigene Erbe entdeckt. Die PVV wiederum, im Ausland vor allem für rabiate Xenophobie bekannt, schärft seit geraumer Zeit ihr soziales Profil. Sie lehnt ein höheres Rentenalter ab und fordert mehr Arbeitskräfte im Pflegebereich.

Wilders fordert offen den Austritt der Nieder-lande aus der EU

Bemerkenswert ist die Opposition der PVV zum Sparhaushalt höchstens mit Blick auf die politische Laufbahn ihrer Galionsfigur: Geert Wilders nämlich entstammt just der marktliberalen „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD) des zurückgetretenen Premiers Mark Rutte. Und das in dieser Geschichte enthaltene Spannungsverhältnis prägte die vergangenen anderthalb Jahre: unter Haushaltsgesichtspunkten war die Regierung Rutte von Beginn an eine Quadratur des Kreises. Die PVV ließ sich ihre Zustimmung mit der Ghostwriterrolle auf dem Feld der Migrationspolitik entlohnen, die entsprechend brachial ausfiel. Dies wiederum führte zu starkem Protest aus der christdemokratischen Basis. Doch Wilders Weigerung, dem Haushaltsentwurf zuzustimmen, zeigt, dass die Dehnbarkeit des Bündnisses begrenzt war.

Nachdem die Formel „Sparen im Tausch für Zuwanderungsbeschränkung“ nun außer Kraft gesetzt ist, wird das gescheiterte Modell zur Zentrifuge. Die ehemaligen Protagonisten der „rechtesten Regierung aller Zeiten“ (so das Label der oppositionellen SP) sind geradezu gerührt ob der spontanen Kooperation von Linksliberalen und der sozialkonfessionellen „ChristenUnie“, und eine seltene Harmonie schwingt zwischen der Koalition, die nunmehr kommissarisch tätig ist, und gemäßigter Opposition. Auf Seiten der Christdemokraten rühren sich gar Stimmen, das Verbot von Burka und doppelter Nationalität rückgängig zu machen, das vom Kabinett auf Druck der PVV forciert worden war.

Bei der Bilanz dieser Regierung lohnt es sich im Übrigen, einen Moment inne zu halten: ihre Signatur war vor allem ein rabiater Anti-Zuwanderungs-Kurs, der dem hochsensiblen Projekt der Integration einen Bärendienst erwies. Auf EU-Ebene forderten die Niederlande, den Familiennachzug zu begrenzen und den Schengenraum nicht zu erweitern. Der christdemokratische Immigrationsminister Gerd Leers ließ auf Wilders‘ Geheiß die Muskeln spielen, auch zum Verdruss seiner eigenen Basis. Unter anderem brachte er das nun vorerst auf Eis gelegte Projekt einer jährlichen Abschiebequote so genannter Illegaler auf den Weg.

In Erinnerung bleibt auch der jüngste Aufruf der PVV zur Online-Denunziation osteuropäischer Arbeitsmigranten – und ein Premier, der sich von dieser Aktion nicht distanzieren mochte. Wilders selbst forderte 2011, „Asoziale“ in gesonderten Siedlungen unterzubringen. Abgeordnete der PVV machten derweil in den vergangenen Jahren unter anderem wegen öffentlicher Trunkenheit, Gewaltanwendung und Betrugs von sich reden. Ein Fraktionsmitglied stellte sich zudem als Schrecken seiner früheren Nachbarn heraus, der diesen androhte in ihren Briefkasten zu urinieren.

Des Eindrucks eines allgemeinen Aufatmens kann man sich dieser Tage in Den Haag schwerlich erwehren. Es ist wie nach dem sprichwörtlichen Erwachen aus einem schlechten Traum. Dies kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zusammenarbeit mit der PVV für den neoliberalen Premier Rutte 2010 erklärtermaßen die erste Option war, und sich auch die Christdemokraten, ihrer fundamentalen Zweifel zum Trotz, damals zu zwei Dritteln dafür aussprachen – nach dem gängigen Prinzip des kleineren Übels zwar, doch basiert nicht auch dieses auf der Suche nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten?

Wie befreit aus einem allzu engen Korsett geriert sich seit dem Aus der Regierung Geert Wilders. „Mit sehr viel Enthusiasmus“, so zitierten ihn niederländische Medien dieser Tage, gehe er in den nun anstehenden Wahlkampf. In Wirklichkeit hat seine Kampagne längst begonnen, und wo der Feind steht, ist keine Frage: gleich in seiner ersten Parlamentsrede wenige Tage nach dem Scheitern der Regierung zog er gegen den „Brüsseler Superstaat“ vom Leder. „Brüssel regiert, Brüssel diktiert“, kommentierte er kurz darauf den Haushaltskompromiss, und folgerte: „Die Niederlande springen über ihren eigenen Schatten – leider ohne Fallschirm.“

Im Sprachduktus Wilders‘ ist Austerität zum Synonym für die EU geworden, gerade als habe es vor dem europäischen Stabilitätspakt keine Sparpolitik gegeben. Inzwischen fordert Wilders offen den Austritt der Niederlande aus der EU. Auch eine Rückkehr zum Gulden, der „schönsten Währung Europas“, propagiert die PVV immer mal wieder. Das sind die Register, die die Partei im Kampf um die Stimmen von „Henk und Ingrid“ zieht. Letztere sind ein fiktives Paar mittleren Alters und weißer Hautfarbe, nicht wohlhabend, doch hart arbeitend, und nach eigener Aussage die Adressaten von Wilders Politik. „Für Henk und Ingrid, nicht für Ali und Fatima“, hieß es vor Jahren. 2012 ist die Stoßrichtung eine andere: „Entweder Brüssel oder Henk und Ingrid.“

Nicht nur wegen des scharfen Oppositionskurses der PVV ist die Erleichterung über den Haushaltskompromiss wenig mehr als eine Momentaufnahme. Aus den Reihen der Sozialdemokraten wurde deutlich gemacht, dass der Kompromiss ein eindeutig bestimmbares Haltbarkeitsdatum habe: die Neuwahlen am 12. September. Danach, so Ex-Minister Ronald Plasterk, „können wir alles rückgängig machen. Der Haushalt von 2013 wird durch das neue Kabinett verabschiedet.“ Den Haag dürfte damit noch ein heißer Tanz um die Achse der Austerität bevorstehen.

Tobias Müller lebt in Amsterdam und berichtet für die woxx vor allem aus Belgien und den Niederlanden.


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