VERLUSTGEFÜHLE: Identität, verzweifelt gesucht

Salvatore Scibona hat einen beeindruckenden Debütroman vorgelegt. Er beschreibt darin nicht nur die innere Zerrissenheit der italienischen Einwanderer in die USA und ihrer Nachfahren. Scibonas Figuren sind Individuen, denen in einer brüchig gewordenen Moderne die Identitätsbildung problematisch geworden ist.

Rocco La Grassa kam am Tag des Luciafestes auf Sizilien zur Welt. Aber er lebt nicht mehr nach dem katholischen Heiligenkalender, ist schon lange ein patriotischer Bewohner Ohios. Als er 1953 am Vortag von Mariä Himmelfahrt vom Tod seines Sohnes in einem nordkoreanischen Gefangenenlager erfährt, weigert er sich, die Nachricht der Marineoffiziere zu glauben. Der Tote ist nicht Mimmo. Die Identifikationsmarke könnte falsch sein. Genauso falsch wie das Prozessionsspektakel, das die sizilianische Gemeinde alljährlich für die Heilige Jungfrau vor seinem Bäckerladen veranstaltete. Denn obgleich in Elephant Park seine alten Landsleute seit einigen Jahren in der Überzahl sind und Rocco irgendwie zu ihnen zählt, findet er die kollektive Verehrung der Mutter Gottes in der Neuen Welt fehl am Platz. „Dies war das Land des Einzelnen, der Privatwirtschaft, riesiger, leerer Landstriche, das Land des Protestanten Jesus, der bei seinem Vornamen genannt wurde und die Seelen, eine nach der anderen, rettete“. Man musste sich nur in sein Auto setzen und durch das weite Land der Erlösung entgegenfahren. Und so verliert sich die Spur von Rocco, der als erster in Salvatore Scibonas Debütroman „Das Ende“ aus der Menschenmenge des italienischen Viertels von Cleveland, Ohio auftaucht, schon nach dem ersten Kapitel.

Der Krieg bleibt aus. Es beginnt immer nur ein neuer Tag.

Im Zentrum von Scibonas Figurenkonstellation steht Roccos Nachbarin Costanza Marini. Nichts erscheint ihr deprimierender als der in Elephant Park neuerdings wieder betriebene Kult der Blutsverwandtschaft. Seit sie sich als Neunzehnjährige heimlich aus ihrem Dorf im süditalienischen Latium davonmachte, ordnet sie ihr Ich diesem Wir nicht mehr unter. Mrs. Marini strebt nach Höherem, wünscht sich geistiges Leben. Doch entgegen der Verheißungen der Neuen Welt, gehört es zu ihrem Schicksal, von ungebildeten Menschen umgeben zu sein, für deren Erziehung sie sich verantwortlich fühlt: Aus Lina soll keine dumme Ehefrau werden, Enzo ist für einen Maurer zu sanftmütig und Ciccio, der verlorene Sohn, zieht schließlich sogar bei ihr ein. Dazu kommen noch die vielen Frauen, bei denen Costanza im Keller ihres Hauses illegale Schwangerschaftsabbrüche durchführt, ohne deshalb zur traditionellen „Engelmacherin“ zu werden. Mrs. Marini hat Bücher gelesen und Vorlesungen besucht. Niemand muss bei ihr an einer Sepsis sterben. Trotz eigener rassistischer Vorurteile ist sie bereit, für eine Afroamerikanerin, die Hilfe braucht, einen Nachmittag zu inszenieren, bei dem, wie sich am Ende dieser großartigen Romankomposition herausstellt, die Prozession zu Mariä Himmelfahrt zur Kulisse degradiert wird.

Die meisten Episoden aus Scibonas Roman ereignen sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, zur Blütezeit der literarischen Moderne. Der Autor stellt sich ganz in diese Tradition. Mehr als ein geographischer Anklang verbindet ihn mit Sherwood Andersons Kurzgeschichtenzyklus „Winesburg, Ohio“, auch wenn die formalen Kategorien der Avantgarde, deren sich Scibona bedient, eher mit den Namen Gertrude Stein und William Faulkner in Verbindung gebracht werden. Ähnlich wie die modernen Altmeister liefert Scibona keine lineare Chronik, sondern eine offene Abfolge von Sequenzen des Lebens in Clevelands italienischem Viertel. Die Perspektiven wechseln nicht nur zwischen den lebenden und untoten Bewohnern, auch die Wahrnehmungs- und Bewusstseinsebene der einzelnen Personen verschieben sich permanent. Träume sind von Phantasien im Wachzustand nicht zu unterscheiden, vage Erinnerungen verwandeln sich in imaginierte Zwiegespräche. Dialoge, die lange zuvor unterbrochen wurden, gehen nach einigen Seiten atemlos weiter. Manchmal genügt eine Geste, um die räumliche und zeitliche Ordnung des Textes zu durchbrechen. Rückblenden in die Vergangenheit führen unverhofft auf eine neue Zeitebene zurück. Nur die Zukunftsvision einer atomaren Katastrophe scheinen alle zu teilen. Gleißendes Sonnenlicht über Elephant Park kann eine kollektive Panik auslösen. Doch der Krieg bleibt aus. Es beginnt immer nur ein neuer Tag.

Scibonas Figuren sind moderne Individuen, denen die Identitätsbildung problematisch geworden ist. „Ich möchte eine Linie sein, die sich in die Länge zieht, in Unordnung gerät und sich schließlich wieder selbst kreuzt. Ein Weg, der schrittweise zurückverfolgt werden kann. Aber ich bin alles nicht, ich bin unzusammenhängend.“ Solche Grübeleien gewährt der Autor seinen Figuren nur ausnahmsweise. Er reflektiert die Schwierigkeiten der Identitätsfindung lieber selbst. Deshalb sind die Stimmen aus Elephant Park alles andere als unzusammenhängend. Scibona versteht es, seine Reminiszenz an die Epoche der literarischen Avantgarde inhaltlich durchzukomponieren.

Anfang und Ende der amerikanischen Moderne sind den Lebensläufen seiner Figuren eingeschrieben: Rocco bricht 1913 aus seinem sizilianischen Dorf in die Neue Welt auf, in jenem Jahr, in dem in New York in der berühmten „Armory Show“ erstmals die europäische moderne Malerei ausgestellt wird. Die Generation von Einwanderern der alten Jahrhundertwende will mit den Konventionen der zurückgelassenen Heimat brechen, hofft im neuen Land auf ein neues Leben. Costanza wird nie wieder Dialekt sprechen. Unverhohlen bekennt sie, während des Zweiten Weltkriegs mit ihren Steuergeldern „freudig zur Zerstörung von Cassino beigetragen“ zu haben. Wuchernde Landschaften jenseits der Stadtgrenze bereiten ihr Unbehagen, nirgends soll ihr neues Land dem alten Latium ähneln. Deshalb empfindet sie auch „das an Briefkästen angebundene Nutzvieh“ in ihrer Nachbarschaft als Bedrohung von zivilisatorischen Errungenschaften.

Der patriarchale Starrsinn der süditalienischen Familienväter ist zum Scheitern verurteilt. Immerhin wurde 1920 in den Vereinigten Staaten landesweit das Frauenwahlrecht durchgesetzt. Die weiblichen Figuren in Scibonas Roman sind keine italienischen Mütter, Loveypants, Patrizia und schließlich Lina verweigern sich, wenn auch unbeholfen, dieser Rolle. In den frühen Fünfzigerjahren markiert der Beginn der Postmoderne das Ende der alten Ordnung in Elephant Park. Gary kommt nur noch für die Marienprozession hierher, denn der 15. August erinnert ihn daran, dass sein Sohn zwei Namen hatte, „einen Vornamen und einen Nachnamen, einen für das kleine Ich, einen für das große Ich, jene über Jahrhunderte und einen Ozean hinweg ge-teilte Identität, ein Name, den andere, wenn man ihn aussprach, mit einer Sippe und einem Ort in Verbindung brachten.“ Doch der Versuch der ethnischen Zuordnung und kulturalistischen Verklärung misslingt: Der Junge mag die frittierten Artischocken der Sippe nicht und der Vater kann ihm die lateinischen Gebetskarten der Vorfahren nicht übersetzen.

Scibona zeigt die Grenzen des modernen Autonomiestrebens. Er hegt nicht die Illusion, das Individuum könnte seine längst verlorene Souveränität zurückgewinnen, er versucht nicht das Unrettbare zu retten. Gleichzeit aber betrachtet der 1975 geborene und vom „New Yorker“ zu den bedeutendsten amerikanischen Nachwuchsschriftstellern gekürte Autor die modernen Subjektentwürfe nicht mit Verachtung, er denunziert sie nicht. Er spielt auch nicht einfach mit den Stilelementen einer vergangenen Epoche, sein Roman ist keine postmoderne Parodie. Scibona erzählt am Ende des Zeitalters moderner Migration von Hoffnungen, die erfüllt und enttäuscht wurden und von Versprechen, die gebrochen oder nicht erfüllt wurden.

Salvatore Scibona – Das Ende.
Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs.
Arche-Verlag, 352 Seiten.


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