KINDHEIT IN NEAPEL: Die Geduld des Zugvogels

Mit „Montedidio“ wurde nun ein früher Roman des italienischen Autors Erri De Luca wieder auf Deutsch zugänglich gemacht. Der Übersetzerin ist es gelungen, die berückende Sinnlichkeit von Sprache und Erzählstil des Ausgangstextes zu bewahren.

In Neapel muss man sich mit dem Erwachsenwerden beeilen. Denn in den Nachkriegsjahren ist die gesetzliche Schulpflicht kurz und die Kindheit schnell vorbei. Auch für den jugendlichen Ich-Erzähler in Erri De Lucas Roman „Montedidio“ beginnt nach seinem dreizehnten Geburtstag die Einführung in ein neues Leben. Sein Vater schenkt ihm einen australischen Bumerang. Es ist ein schön geschwungenes Stück Holz, das schwer in der Hand liegt, kein Spielzeug, sondern ein traditionelles Jagdwerkzeug. Der Junge begegnet ihm mit derselben Ehrfurcht, mit der er sich auch den Werkzeugen in der Tischlerwerkstatt seines Lehrmeisters Errico nähert. In den engen Gassen des dicht bewohnten Altstadtviertels Montedidio gibt es jedoch keine Möglichkeit, den Bumerang fliegen zu lassen. Der Junge kann ihn nur auf der Dachterrasse, unter dem warmen Himmel, zwischen der zum Trocknen aufgehängten Wäsche in den Wind halten. Er kann die Wurfbewegung andeuten, muss den Schwung aber immer wieder abbremsen. Die Übungen stärken die Muskeln des „guagliò“, der Junge entdeckt seinen Körper, die Kraft und die Lust, die aus ihm erwächst. Der neapolitanische Ausdruck „guagliò“ ist Lockruf und Verheißung der neuen Freiheit, aber auch Ermahnung und Verpflichtung zur Selbständigkeit. Er gilt für die Dauer der Adoleszenz, die das Kind vom Mannsein trennt. De Luca folgt dem Zeitbogen in kleinen Kapiteln, die sich wie kurze Kalendergeschichten aneinanderreihen. Bis endlich der Tag kommt, an dem der „guagliò“ das Wurfholz loslassen kann.

Nachdem Erri De Luca 2010 der Petrarca-Preis verliehen wurde, erschienen im Münchner Graf Verlag zwei seiner neueren Bücher. Damit wurde der 1950 in Neapel geborene Autor erfreulicherweise einem deutschsprachigen Publikum wieder zugänglich gemacht. Mit „Montedidio“ folgte in diesem Sommer die Übersetzung einer jener frühen Neapel-Romane, die De Lucas Erfolg als Schriftsteller begründeten und in Frankreich mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Der Kurzroman enthält bereits alle Motive, die in den späteren Büchern wiederkehren.

Im Zentrum des Werks stehen dabei immer wieder die Kindheits- und Jugenderfahrungen des Autors. In den Nachkriegsjahren wohnten Bürgerfamilien, die ihren sozialen Status mehr durch Bildung als durch Einkommen verteidigten, hungernde Tagelöhner und kleinkriminelle Mafiosi in den bombenversehrte Stadtpalästen auf engstem Raum zusammen. Sie alle bevölkern auch „Montedidio“: vom lüstern-fetten Hausbesitzer bis zu den „Sardellenessern“, die sich kaum das „Brot des Meeres“ leisten können. Verbunden sind die unterschiedlichen Wohnpartien in ihrer Erinnerung an die vier glorreichen Tage im September 1943, als die Einwohner von Neapel, „Don Liborio, Don Ciccio, der Hausmeister, die Frauen, die Werkstattgehilfen, ein einziges großes Getümmel“ die deutschen Nazibesatzer aus der Stadt vertrieben, statt auf die Befreiung durch die alliierten Truppen zu warten. „Nuie ce simmo scucciate d’aspetta, wir hatten es statt zu warten“, erzählt Meister Errico voller Stolz, auch wenn die 6. US-Flotte inzwischen längst ihr Hauptquartier im Hafen aufgeschlagen und Neapel zum größten NATO-Mittelmeerstützpunkt aufgerüstet hat.

De Luca hat früh mit dem Schreiben angefangen, dennoch erschien sein erster Roman eher zufällig als er schon vierzig Jahre alt war. Das Schreiben galt ihm bis dahin als Muße inmitten eines aufreibenden Alltags. Nach dem Abitur im Sommer 1968 war ihm Neapel zu eng geworden. Er zog nach Rom und schloss sich der außerparlamentarischen Gruppierung „Lotta Continua“ an. Für ein Jahrzehnt beteiligte er sich an Wohn- und Fabrikkämpfen. Noch heute zählt er sich „zur letzten revolutionären Generation des 20. Jahrhunderts“. Als sich die linke Oppositionsbewegung Ende der Siebzigerjahre auflöste und infolge zunehmender staatlicher Repression ein unaufhaltsamer gesellschaftlicher Entpolitisierungsprozess einsetzte, entschied sich De Luca für ein Leben an der Seite derjenigen, denen sein politischer Kampf gegolten hatte. Er verdingte sich in Turin, Mailand und Paris als Fabrik- und Bauarbeiter.

„Italienisch ist eine Sprache ohne Spucke“, wohingegen das Neapolitanische den Mund mit Speichel füllt „und macht, dass die Wörter gut kleben.“

Als Ausgleich zur täglichen körperlichen Verausgabung, begann er damals mit dem autodidaktischen Studium der Heiligen Schrift. De Luca lernte Althebräisch und fing an, Bibelgeschichten zu übersetzen. Er suchte nicht nach einem religiösen Sinn, nur nach dem größtmöglichen Abstand zu seiner nach dem politischen Rückfluss und der Verhaftung zahlreicher Freunde schwarz verhangenen Gegenwart. Auf einer Polenreise anlässlich des fünfzigsten Jahrestags des Warschauer Ghettoaufstands fasste er 1993 den Entschluss, Jiddisch zu lernen. „Den Nazis ist es nicht gelungen, ein ganzes Volk zu vernichten, wohl aber eine Sprache. Jiddisch neu zu lernen, ist das einzige, was ein Nachgeborener tun kann.“ Diese Form der Aufarbeitung der Vergangenheit wirkt auf viele Linke, die mit ihrem Antizionismus jedes Nachdenken über die Vernichtung der europäischen Juden verdrängen, irritierend. Ebenso klingen seine Bibelübersetzungen den katholischen Interpreten des Alten Testaments fremd. Doch De Luca lässt sich weder ein krankhafter Schuldkomplex, noch religiöser Philosemitismus unterstellen. Er bezeichnet sich selbst als Ungläubigen, sein Interesse gilt dem Leben, das in den Geschichten der alten, ausgelöschten Sprachen zum Ausdruck kommt. Die fixe Idee, Jiddisch und Neapolitanisch könnten sich ähneln, weil beide Sprachen aus kurzen, endsilbenbetonten Wörter bestehen, dazu geeignet sich im Lärm einer auf engstem Raum zusammenlebenden Menschenmenge Gehör zu verschaffen, inspirierte De Luca in „Montedidio“ zu einer märchenhaften Romanfigur: dem Flickschuster Don Rafaniello, aus dessen Buckel Federn wachsen.

Dieser ist ein Überlebender der Shoah, der nach dem Krieg nach Israel auswandern will. Doch weil ihn der Klang einer Schiffssirene im Hafen von Neapel an einen vergangenen Festtag im Schtetel erinnerte, ist er geblieben. Nun sitzt er „wie ein Tourist, der falsch gebucht hat“ auf dem Montedidio, dem neapolitanischen Berg Gottes. Ironisch stellt er fest: „Es stimmt zwar, dass die Leute hier fähig sind, antike Möbel, Luxusuhren und amerikanische Zigarettenpackungen so gut zu imitieren, dass sie wie Originale aussehen, aber den Berg Gottes, den kann man nicht nachmachen, das ist zu viel der Nachahmung, den gibt es nur in Jerusalem.“ Geduldig harrt Don Rafaniello seiner Verwandlung in einen Zugvogel, um sich in der letzten Nacht des Jahres in einen vom Feuerwerk erleuchteten Himmel zu stürzen, dem Heiligen Land entgegen.

De Lucas eigener Biographie nachempfunden, fehlt dem Tischlerlehrling und Ich-Erzähler jeder jugendliche Leichtsinn, er ist ein besonnener Leser und aufmerksamer Zuhörer. Doch „`a iurnata è `nu muorzo, ein Tag ist schnell gegessen“, wie sein Meister Errico zu sagen pflegt. Dem Lehrling bleiben nur die Abendstunden, um die gesammelten Geschichten auf eine Papierrolle zu übertragen. „Das Geräusch des Bleistifts auf dem Papier fasst den Lärm des Tages zusammen“, im Italienischen lassen sich die Ereignisse leise aufbewahren. Italienisch ist dem Jungen eine stille Schriftsprache, „die brav in den Büchern bleibt“, von niemandem gesprochen wird. „Italienisch ist eine Sprache ohne Spucke“, wohingegen das Neapolitanische den Mund mit Speichel füllt „und macht, dass die Wörter gut kleben.“ Hier behält die Sprache eine somatische Ausdruckskraft. Noch in der deutschen Ausgabe sind die Vibrationen der mit allen Sinnen geschriebenen Sätze zu spüren, wenn sich die Übersetzerin Annette Kopetzki den dialektalen Wendungen durch den Verzicht auf wortgetreue Übersetzung behutsam anzunähern versucht. Da die Sprache aufs engste mit der Materialität verbunden bleibt, enden die täglichen Aufzeichnungen nicht selten mit einer Handbewegung, einem kurzen Blick oder weil das Licht verlöscht, die Schreibunterlage fehlt. So gibt es auch für den Schrei, den der Junge dem Flug des Bumerangs hinterher wirft, auf der Papierrolle keinen Platz mehr. Er verhallt über den Dächern von Montedidio.

Erri De Luca – Montedidio. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Graf Verlag, 217 Seiten.


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