KRIMINALITÄT DER GESELLSCHAFT: „Wirf dich hin und stell dich tot“

Der Sammelband „NarcoZones“ bietet eine vielschichtige Analyse des Drogenhandels in Lateinamerika. Ein Autorenkollektiv beschreibt, wie es zur Hegemonie der Gewalt kam.

Die Schnauze gestrichen voll:
Demonstration in Mexiko gegen den Drogenkrieg.

Paco ist überall. In den Armenvierteln von Buenos Aires raucht angeblich die Hälfte der Jugendlichen die Kokain-Basispaste, in Europa und Nordamerika ist der Stoff als Crack bekannt. In Südamerika ist er vor allem in Argentinien, Brasilien und Uruguay verbreitet. Paco ist billig, es ist mit Kerosin, Putzmittel oder gemahlenen Glassplittern gestreckt. Der Rausch dauert nur kurz, doch die Folgen sind umso härter: Depressionen und Krämpfe, Organ- und Gehirnschäden sowie ein zerstörtes Nervensystem. 

Wer über Drogen und Lateinamerika spricht, meint in den meisten Fällen nicht die Süchtigen, sondern den internationalen Kokainhandel und die Rauschgiftmafia, die ganze Staaten durchsetzt haben. Bis in die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts stand Kolumbien als Bastion der Drogenkartelle im Zentrum der weltweiten Wahrnehmung, heute ist es der mexikanische Drogenkrieg, der jedes Jahr mindestens zehntausend Todesopfer fordert. Doch auch die anderen lateinamerikanischen Länder kämpfen mit dem Organisierten Verbrechen.

Die Autoren von „NarcoZones“, dem dieses Jahr in der Berliner Assoziation A erschienen Buch über „Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika“, machen von Anfang an klar: Drogen sind nur noch ein Teil dessen, womit die Kartelle ihr Geld verdienen. „Die Gruppen agieren als transnationale Unternehmen, die nur wenig mit der klassischen Mafia gemein haben“, heißt es im Vorwort des Autorenkollektivs. „Wie andere Konzerne investieren sie ihr Kapital in Wirtschaftssektoren, die attraktive Gewinne versprechen.“

Die Drogenbarone haben die gesamte Wirtschaft durchdrungen und haben dort ihre Geschäftspartner. Denn die illegale Wirtschaft braucht die legale Ökonomie für eine weiße Weste. Einerseits unterstützen die Nordamerikaner und Europäer den Krieg gegen die Drogenhändler, andererseits lassen sie deren Geldwäsche zu. Denn dafür brauchen die schwerreichen Bosse stabile Rechtsstaaten. Sie investieren in nordamerikanische Wohnsiedlungen ebenso wie in europäische Shopping Malls.

Weniger als die Hälfte der Einnahmen der Banden stammen aus dem Drogenhandel, bestätigt Edgardo Buscaglia in einem Interview mit Wolf-Dieter Vogel eingangs des Buches. Der aus Uruguay stammende Experte für Organisierte Kriminalität warnt: „Das Organisierte Verbrechen entwickelt eine ökonomische und politische Kraft, die es vorher nicht hatte. Mexiko ist keine Ausnahme.“ Buscaglia verweist auf die Komplizenschaft der Kartelle in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft einerseits und in den armen Teilen der Bevölkerung. Das Organisierte Verbrechen sei ein soziales und politisches Phänomen. Ihm den Krieg zu erklären, bedeute nichts anderes als eine Kampfansage an die eigene Gesellschaft.

Die militärische Bekämpfung des Drogenhandels hat versagt. Bestes Beispiel ist der von der US-Regierung mit Milliarden Dollar finanzierte „Plan Colombia“: Während die illegalen Geschäfte weiter blühten, stieg nur die Zahl der Menschenrechtsverbrechen. Auch in Mexiko zeigt sich, dass der Einsatz der Streitkräfte das Gegenteil dessen bewirkten, auf was er ursprünglich abzielte. Nach dem „Pax Mafiosa“ unter der 70 Jahre lang regierenden Partido Revolucionario Institucional (PRI), dem „mafiösen Frieden“, eskalierte die Gewalt, als der damalige Präsident Felipe Calderón die Soldaten ins Feld schickte. Seit 2006 sollen es 60.000 Tote gewesen sein, die unzähligen Verschwundenen nicht mitgezählt.

Dem Organisierten Verbrechen den Krieg zu erklären, bedeutet nichts anderes als eine Kampfansage an
die eigene Gesellschaft.

Von der Legalisierung der Drogen hält Buscaglia wenig. Dies bringe im besten Falle in den Ländern mit starken staatlichen Institutionen etwas und auch dort könne man höchstens die Beschaffungskriminalität beseitigen. Die Kartelle würden sich auf andere Bereiche konzentrieren und haben sich längst diversifiziert: Menschen- und Waffenhandel, Auftragsmorde, Entführungen und Schutzgelderpressung, Raubkopien und Internetbetrug.

Der aus 17 Beiträgen bestehende Band beleuchtet unter anderem, wie die Organisierte Kriminalität jene gesellschaftlichen Bereiche infiltriert hat, in denen der Staat die Kontrolle verloren hat. Schon Drogenbarone wie der Kolumbianer Pablo Escobar ersetzten dort die Staatsmacht und avancierten zu lokalen Caudillos. Sie ließen Fußballfelder und Schulen bauen und gewährleisten die Stromversorgung. Zugleich rekrutieren sie in den Elendsvierteln ihren Nachwuchs. Anne Huffschmid beschreibt in ihrem Beitrag „Terror und Öffentlichkeit“, wie mit der inszenierten Gewalt die Bevölkerung eingeschüchtert wird – mit Getöteten, die demonstrativ auf der Straße abgelegt werden. Je brutaler das Bild, desto größer die Wirkung. 

Die Medien spielen hier eine wichtige Rolle. Sie dienen mehr oder weniger ungewollt der so genannten Drogenmafia als verlängerter Arm zur „Öffentlichkeitsarbeit“. Welche Rolle der Drogenkonflikt, der die zeitgenössische populäre Musik in Mexiko ebenso prägt wie die Telenovelas, in der Literatur spielt, zeigt Valentin Schönherr in seinem Kapitel „Nachrichten aus dem Verwüstungsgebiet“.

Zwar bildet Mexiko einen geografischen Schwerpunkt des Buches, das äußerst informativ und gut lesbar geschrieben ist, aber in mehreren Beiträgen wird die Situation in Zentralamerika, den Andenstaaten und Brasilien geschildert. Mit welchen Methoden Banden wie das berüchtigte „Commando Vermelho“, das rote Kommando, die Favelas von Rio de Janeiro beherrschen, zeigen die Kapitel „Gefährliche Verbindungen“ und „Das Gute des Bösen“. Ein „matuto“ liefert dem Boss Drogen, ein „endolador“ bereitet sie auf und verpackt sie, „vapores“ verkaufen sie an die Endverbraucher. Im Netz des Drogenhandels gibt es noch zahlreiche weitere Akteure – und die Anführer sorgen für den fragwürdigen Schutz der Favela-Bewohner.

Es sind verschiedene Ansätze und Blickwinkel, die der Band präsentiert. Er versammelt zudem mehrere Textgattungen, von der politischen Analyse über Interviews und Kolumnen bis zu Reportagen – wie die über die mexikanische Grenzstadt Ciudad de Juarez. Diese ist eine der Städte mit den höchsten Mordraten der Welt. Ihr gegenüber, auf der US-amerikanischen Seite der Grenze, liegt El Paso. Die mexikanische Journalistin Lourdes Cardenás beschreibt die ungleichen Städte als „Die Schöne und die Hässliche“. Eindrucksvoll schildert sie die Folgen des Drogenkrieges, wenn zum Beispiel die Kinder in der Grundschule lernen, wie sie sich im Falle einer Schießerei zu verhalten haben: „Wirf dich hin und stell dich tot.“

An einer anderen Stelle schildern Jesús Cantú und Mariano Franco den Aufstieg der Zetas von einer Einheit Elitesoldaten über eine paramilitärische Schutztruppe des Golfkartells zu einer der bedeutendsten kriminellen Organisationen Mexikos. Es kommen also viele Aspekte aus dem Themenbereich des Drogenhandels und der organisierten Kriminalität vor. Deutlich wird dabei, was der mexikanische Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II in seinem Beitrag betont: Es gibt keine klare Trennung zwischen staatlicher Gewalt und Kriminalität, zwischen Freund und Feind, zwischen Gut und Böse.

Beschrieben werden die Routen des internationalen Drogenhandels, der Blickwinkel eines mexikanischen Killers ebenso wie die Rolle der Straßengangs. Aber von den Konsumenten der Drogen ist nur wenig die Rede: Drogenabhängige wie die eingangs angesprochen Paco-Süchtigen, die wie Zombies vegetieren – lebende Tote am Ende des Spektrums vom internationalen Milliardengeschäft. 

Eine Lösung ist nicht in Sicht. Immerhin gibt es Hoffnungsschimmer, wenn sich die Zivilgesellschaft regt, wie in Mexiko die von dem Dichter Javier Sicilla ins Leben gerufene Bewegung „Estamos hasta la madre“ (Wir haben die Schnauze voll“). Sicilla hat seinen Sohn im Drogenkrieg verloren. Ein anderes Beispiel bietet das Dorf Cherán in Michoacan: Der Dorfgemeinschaft gelang es, eine Bande zu vertreiben (woxx 1159).

Der Verbrechensexperte Edgardo Buscaglia weist darauf hin, dass der Konflikt bisher vor allem die Unter- und Mittelschicht traf. Er kennt die entscheidende Bedingung für eine Wende und Besserung: „Die Unternehmerklasse muss am Abgrund stehen.“ Buscaglia nennt vier Maßnahmenbündel: Prävention, um den Jugendlichen eine Perspektive zu bieten, die Zerschlagung der finanziellen Basis der Gangs, weitreichende Justizreformen sowie eine strikte Bekämpfung der Korruption. Das klingt einfach. Wer das Buch gelesen hat, weiß: Es ist schwer umzusetzen.

Anne Huffschmid, Wolf-Dieter Vogel u.a. (Hg.): NarcoZones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika.
Assoziation A, 268 Seiten.


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