THEATER: Hartz (191)4

In August Stramms Stück „Rudimentär“ werden menschliche Abgründe geöffnet, die auch heutzutage nicht zu begreifen sind. Auch nach hundert Jahren bleiben die Gesetze der kapitalistischen Schwerkraft unverändert.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts war Chauffeur ein angesehener Beruf…

Es ist noch kalt auf der Bühne. Die Heizung des Kapuzinertheaters wurde gerade erst vor den Proben hochgefahren, an diesem kalten Montagnachmittag, einem der ersten Tage des Herbstes, an dem man förmlich spüren kann, dass der Winter bald Einzug halten wird. Aber die kalte Luft, die bis in den Zuschauerraum dringt, passt irgendwie zum Ambiente auf der Bühne: Eine spärliche Mansarde mit einem Bett, einem Herd samt Gashahn, ein paar Kleider. Das Stück spielt kurz vor dem ersten Weltkrieg, zu einer Zeit also, als Industralisierung, Positivismus und Optimismus noch vereinbar schienen. Dass der Ort Berlin ist, muss nicht eigens mitgeteilt werden, denn die Schauspieler berlinern um die Wette, die „Icke“ fliegen einem nur so um die Ohren.

In besagter Mansarde lebt ein junges Ehepaar mit seinem Kind. Das Bett muss es sich aber aus Geldnot mit einem Chauffeur teilen, der nachts arbeitet und es tagsüber als „Schlafbursche“ nutzt. Das ganze Stück ist eine „ménage à trois“, aber sicherlich keine klassische Komödie – auch wenn die Inhalte vorhanden wären. Nein, es ist eine Mikroskopie der (un)sozialen Verhältnisse. Dessen, was passiert, wenn Menschen nicht in Elend und Aussichtslosigkeit landen, sondern niemals anderes gekannt haben. Wie dieses Vegetieren aussieht und wie es endet wird, verraten wir an dieser Stelle nicht. Nur so viel: Wer glaubt, Stramms fast hundertjähriger Text müsse veraltet sein, irrt gewaltig. Und wer glaubt, dass „Tiefkühlbabys“, Verwahrlosung ganzer Stadtbezirke, Verrohung der Gesellschaft und aussichtslose Prekarität Phänomene der Neuzeit sind, irrt ebenfalls. „Rudimentär“ ist hochaktuell in dem Sinne, als das Stück zwar einen empathischen Blick auf derartige Verhältnisse wirft, trotzdem aber meilenweit von der Schlagzeilengeilheit unserer übermediatisierten Gesellschaft operiert, da die Boulevardpresse zu Stramms Lebzeiten noch in den Kinderschuhen steckte und Berichte aus den unteren Gesellschaftsschichten noch wirkliche Avantgarde waren.

Denn zur Avantgarde kann August Stramm sicher gezählt werden. Geboren 1874 in Münster, zieht der Beamte – nach einem abgebrochenen Theologiestudium, Arbeit im Postdienst und der Abfassung einer Dissertation über das „Welteinheitsporto“ – 1905 mit seiner Familie nach Berlin. Dort beginnt seine eigentliche Schaffenszeit. Schnell findet er zu den zwei Elementen, die seinen Stil prägen werden – der Vorliebe für naturalistische Themen, wie „Rudimentär“ sie illustriert, und den Sprachexperimenten, die er radikaler und härter betreibt als die zeitgenössischen Expressionisten. Der literarische Erfolg lässt aber auf sich warten. Erst als sich Herwarth Walden, Herausgeber der zwischen 1910 und 1932 erscheinenden Zeitschrift „Der Sturm“, interessiert zeigt, fühlt Stramm sich ernstgenommen. Erste Publikationen in Waldens Blatt erzielen durchaus Achtungserfolge, doch folgt bald das jähe Ende der Karriere aus demselben Grund wie bei vielen anderen Künstlern jener Zeit: Stramm stirbt 1915 in einem Schützengraben. Und die Nachwelt meint es nicht besonders gut mit ihm. Zwar lassen sich einige Dadaisten, Kurt Schwitters zum Beispiel, von seinem radikalen, von jeder neoromantischen Schreibfloskelei befreiten Schreibstil inspirieren, doch seine Stücke werden nur selten auf die Bühne gebracht.

Avantgardistischer Postbeamter

Dass dies zu Unrecht so ist, versucht Regisseur Jean-Paul Raths mit seiner Inszenierung von Stramms Stück klarzustellen: „Nachdem ich zum ersten Mal mit diesem Text konfrontiert wurde, hat er mich nicht mehr losgelassen“, erzählt Raths in der mittlerweile leicht überheizten Schauspielerstube hinter der Bühne des Kapuzinertheaters. Diese erste Begegnung geschah im Jahre 2006 bei einer von ihm geleiteten szenischen Lesung des Texts im Berliner Künstlerklub „Die Möwe“, einem kurz danach verschwundenen Relikt aus DDR-Zeiten. Mit den Schauspielern Thorsten Merten, Prodromos Antoniadis und Stefanie Poljakoff ging er durch Stramms Text und wunderte sich, wie positiv beeindruckt das Publikum war. „Von diesem Moment an wollte ich das Stück inszenieren“, gesteht Raths und scheint glücklich, dass dies nun durch eine Ko-Produktion der städtischen Theater Luxemburgs mit der Theatertribüne Stuttgart funktioniert hat. Auch wenn es – typisch Luxemburg – nur dreimal hierzulande, aber an die zehn Mal in Stuttgart aufgeführt werden soll. Das Team ist jedenfalls ziemlich in gleiche Verhältnisse aufgeteilt, und Schauspieler wie Pitt Simon oder Nickel Bösenberg sind dem heimischen Publikum sicher vertraut. Und mit Susan Ihlenfeld haben sie sich die perfekte Partnerin aus Deutschland gleich mit auf die Bühne geholt. Eine solche Aufteilung entspricht auch der Vita des Regisseurs, denn Raths gehört zu den luxemburgischen Kunstschaffenden, die, auch wenn sie ab und zu in ihrer Heimat aktiv sind, das Ausland zu ihrer Arbeit benötigen. Auch Raths Karriere – ob auf oder hinter der Bühne, ob im Fernsehen oder auf der Leinwand – hat sich zu großen Teilen im Ausland abgespielt.

Auf die Frage, welchen Aspekt von Stramms Text er bevorzugt, den historischen oder den aktualitätsbezogenen, ist Raths Antwoert klar: „Natürlich ist der Bezug zu den heutigen Zeiten viel wichtiger als der historische. Damals wie heute geht es um das Ende einer Ära, und genau das macht Stramm heute aktuell, auch wenn es sicherlich wichtige Unterschiede gibt. Wie zum Beispiel den, dass das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit in der Gründerzeit eigentlich unbekannt war. Wer in den ersten Zeiten der Industrialisierung Arbeit sucht, der konnte auch welche finden. Der Mann in ?Rudimentär‘ will nicht arbeiten, aus freier Wahl heraus. Das macht das Stück umso interessanter“. Auch für die Schauspieler ist die Aktualität des Texts mit Abstand der wichtigere Aspekt: „Wenn man den Text liest, kriegt man die Bilder des Horrorboulevards einfach nicht aus dem Kopf“, meint zum Beispiel Nickel Bösenberg. Und was das „Berlinern“ angeht, das sicherlich den einen oder anderen Zuschauer stören dürfte, so hat der Regisseur, wie er es selbst formuliert, den Text „gründlich entschärft, denn Stramms Gossensprache war ein reines ?Fantasie-Ostpreussisch‘ das niemals gesprochen wurde. Stramm war Münsteraner, das darf man nicht vergessen“. Wer einmal einen Blick auf die erste Seite des Stücks wirft – unter Projekt Gutenberg ist dies möglich ? weiß, dass Raths, nicht übertreibt.

Alles in allem also ein politisches Theaterstück, das auch den Ansprüchen der hiesigen Bildungsbürger Genüge tut – was an sich selten genug ist und ein Grund, sich ins Kapuziner-theater zu wagen.

Im Kapuzinertheater am 3., 5. und am 6. November.


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