ÄGYPTEN: Die Revolution geht weiter

Die antiislamistischen Massenproteste in Ägypten richten sich nicht allein gegen Präsident Mohammed Mursi. Der Kulturkampf gegen das Establishment der alten Männer hat gerade erst begonnen.

Kein Platz mehr für Obrigkeitshörigkeit: Demonstration in Kairo gegen Präsident Mursis autoritäre Machenschaften.

In Ägypten haben die regierenden Islamisten eine Abreibung erhalten, von der sie sich wohl lange nicht erholen werden. Wer glaubte, aus dem „arabischen Frühling“ werde ein „islamistischer Winter“ werden, hat die Dynamik der arabischen Gesellschaften nicht begriffen. Auch die US-Regierung hat auf das falsche Pferd gesetzt.

Hunderttausende haben vergangene Woche vor dem Präsidentenpalast in Kairo demonstriert und campiert. Im ganzen Land gab es Proteste gegen die Regierung der Muslimbruderschaft, sogar in ihrer Hochburg Assiut und im Heimatort von Präsident Mohammed Mursi. Büros der Muslimbrüder wurden gestürmt und gingen in Flammen auf. Es waren die größten antiislamistischen Demonstrationen, die die arabische Welt je gesehen hat.

Entzündet hatte sich der Protest an dem Verfassungsentwurf, über den Präsident Mursi nur knapp zwei Wochen nach dessen Verkündung am 15. Dezember abstimmen lassen will. Außerdem hatte er sich bis zu diesem Referendum weitgehende Vollmachten gesichert, die nach Ansicht der Demonstranten noch über die früheren Befugnisse des Diktators Hosni Mubarak hinausreichen.

Doch geht es den meisten Demonstranten nicht um die Verfassung. Weder die Rolle der Religion, die Diskriminierung von Schiiten und Bahai noch fehlende Artikel über die Nichtdiskriminierung von Frauen und Christen könnten solche Massen auf die Straße bringen. Weit wichtiger dürften die Vollmachten gewesen sein, die Mursi sich einräumte. Er hatte seine Entscheidungen der gerichtlichen Überprüfung entzogen und die Auflösung der verfassunggebenden Versammlung verboten. Damit gab es keine Kontrollinstanz mehr für den Präsidenten. Doch ist Mursis Begründung, er habe nur den Übergang zur Demokratie sichern wollen, durchaus nachvollziehbar. Im vergangenen Jahr hatten Gerichte aus formalen Gründen die verfassungsgebende Versammlung aufgelöst und versucht, Parlament und Regierung lahmzulegen. Auch Mursis Opponenten wissen, dass die Verteidiger des alten Regimes in der Richterschaft weiterhin den Verfassungsprozess gestört hätten.

Aber auch Mursis Erlasse erinnerten die Demonstrierenden zu sehr an das alte System. Der Grund für die Massenproteste ist der mit dem Sturz Mubaraks ausgebrochene Kulturkampf innerhalb der ägyptischen Gesellschaft, ein Kulturkampf, der auch in Tunesien und Libyen begonnen hat. In Tunesien demonstrierten Zehntausende gegen die islamistische Regierung. Im libyschen Bengasi vertrieb die aufgebrachte Bevölkerung die Salafisten aus einem Stadtteil, in dem sie eine eigene Herrschaft errichtet hatten.

Die Gesellschaften der nordafrikanischen Revolutionsländer zerfallen in zwei fast gleich große Lager. Die jüngsten Wahlergebnisse haben das gezeigt. In Tunesien ging die islamistische Partei al-Nahda zwar als Siegerin aus den Wahlen hervor, hatte aber tatsächlich nur 37 Prozent der Stimmen erhalten. Wären die säkularen, und allen voran die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, nicht zerstritten, hätten sie ohne weiteres eine Regierungskoalition aufstellen können. Das gelang in Libyen, wo Mahmoud Jibril konservative, aber nicht islamistische Parteien vereinte und bei den Wahlen deutlich mehr Stimmen als die Muslimbrüder gewann.

In Ägypten errangen zwar bei den Parlamentswahlen die Muslimbrüder und Salafisten gemeinsam über 60 Prozent der Stimmen. Doch die Präsidentschaftswahl zeigte, dass diese Zustimmung ein vorübergehendes Phänomen war. Mursi konnte selbst im zweiten Wahlgang nur 51 Prozent der Stimmen gewinnen. Hätten die Wahlprognosen den linken Kandidaten Hamdeen Sabahi nicht für chancenlos erklärt, hätte der Nasserist womöglich im ersten Wahlgang gewonnen. So haben viele Unterstützer Sabahis in der Stichwahl den verhassten Muslimbruder gewählt, um zu verhindern, dass Ahmed Shafik, der Vertreter des alten Regimes, Präsident wird.

Diese Stichwahl war nicht das erste Frustrationserlebnis für die Aktivisten, die die Revolution getragen hatten. Schon die Chancenlosigkeit neuer Parteien bei den Parlamentswahlen aufgrund des kurzen Wahlkampfes machte viele wütend. Dabei ging es nicht um Wahlergebnisse. „Die Revolution geht weiter“ war der Name eines Bündnisses neugegründeter Parteien von Aktivisten bei den Wahlen im vergangenen November. Sie wollten keine neue Regierungsclique bilden, sondern die überkommenen Strukturen der Gesellschaft ändern. Nicht nur Despotismus und Korruption wollen sie bekämpfen, sondern das patriarchale System abschaffen, in dem die Jungen den Alten und Oberen zu gehorchen haben. Nirgends in der arabischen Welt war der unterwürfige Gehorsam so ausgeprägt wie in Ägypten. Nirgends schien die persönliche Verfangenheit in dieser Gesellschaftsform so unausweichlich und erdrückend. Die ägyptische Gesellschaft war über Jahrzehnte gelähmt durch ungeschriebene Verbote, durch Vorgaben, was man tut und nicht tut.

Die Jugendlichen, die Anfang 2011 ihren Diktator stürzten, haben diese Obrigkeitshörigkeit damals überwunden, ein Zurück wollen sie in keinem Fall. Die Muslimbrüder aber verkörpern die alten Strukturen, die Herrschaft der Patriarchen, die keinen Widerspruch dulden. Mag auch Mursi als etwas hilfloser Teddybär daherkommen, der es nur gut meint – letztlich agiert er nicht anders, als es Despoten in der arabischen Welt seit Jahrhunderten tun: die eigene Macht ausbauen und Kon­trollinstanzen klein halten. Eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Prozessen ist im Verfassungsentwurf nicht vorgesehen. Aber ohne eine solche Beteiligung wird die Energie, die der Sturz Mubaraks freigesetzt hat, immer wieder nur in Frust und Wut umgewandelt. Ohne Beteiligung kann die Revolution nicht in die gesellschaftlichen Strukturen, in Betriebe, Schulen und Kommunalparlamente getragen werden, sondern sich nur auf der Straße entladen.

Die Muslimbrüder verkörpern die alten Strukturen, die Herrschaft der Patriarchen, die keinen Widerspruch dulden.

Die neue Verfassung hat einen hohen Symbolwert. „Warum schreiben Länder neue Verfassungen?“ fragt Mohamed Mosleh in der Zeitung „Egypt Independent“ und gibt die Antwort: „Der Prozess des Schreibens einer Verfassung war immer ein Wendepunkt in der Geschichte von Nationen.“ Der ägyptische Verfassungsentwurf ist kein solcher Wendepunkt: Er ist eine mehr oder weniger schlechte Anpassung der alten Verfassung mit einigen positiven Neuerungen zur Korruptionsvermeidung und einigen umstrittenen Artikeln, vor allem zur Religion. Weit problematischer als der Inhalt ist aber der Prozess. Die überwiegende Mehrheit der verfassunggebenden Versammlung hatten Muslimbrüder und Salafisten gestellt, entsprechend den Ergebnissen der Parlamentswahlen. Damit waren oppositionelle gesellschaftliche Gruppen praktisch ausgeschlossen.

Das hat auch die US-Regierung nicht begriffen, als sie die Muslimbrüder schon vor ihrem Wahlsieg als neue Verbündete in spe nach Washington einlud. Außenpolitisch hat Mursi zwar die amerikanischen Erwartungen mit seinem konfrontativen Auftritt in Teheran und der Kooperation mit Israel erfüllt. Doch innenpolitisch steht er eben nicht für die Revolution, sondern ist Abbild der alten Despoten. Somit haben die Amerikaner in den Augen vieler Ägypter die Revolution verraten. Bei den Protesten hielt ein Demonstrant das Schild: „Obama, your bitch is our dictator“ – deine Hündin (oder Schlampe) ist unser Diktator.

US-Präsident Barack Obama hält dem neuen Verbündeten in Ägypten indes weiter die Treue: Er rief zur Mäßigung auf und begrüßte den von Mursi angekündigten Dialog mit der Opposition. Dieser Dialog ist das Zugeständnis des Präsidenten an die Demonstranten. Zu Recht weist die Opposition ihn als lächerliche Geste zurück. Am Samstagabend hatte Mursi noch angekündigt, das Referendum zu verschieben, nahm dies aber am Sonntag zurück und bot etwas für ihn weit Komfortableres an: einen knapp einwöchigen Dialog und die Aufhebung seiner Vollmachten. Die brauchte er schließlich nicht mehr, da die verfassunggebende Versammlung ihre Arbeit beendet hatte und somit nicht mehr aufgelöst werden konnte. Gleichzeitig kündigte er eine neue Notstandsgesetzgebung an: Das Militär soll öffentliche Gebäude schützen und Festnahmen durchführen, bis die Krise bewältigt ist.

Für viele revolutionäre Aktivistinnen und Aktivisten haben sich die Muslimbrüder schon während der Proteste als Konterrevolutionäre erwiesen. Denn Mursis Anhänger zeigten, dass sie fähig und gewillt sind, jede autoritäre Herrschaft zu verteidigen und ihre Gegner zu erniedrigen. Bei den Demonstrationen schossen nicht etwa Polizisten, sondern Muslimbrüder mit scharfer Munition und Tränengas, sogar mit Maschinengewehren, in die Masse der Gegner Mursis. Im Präsidentenpalast entdeckte ein Reporter der ägyptischen Zeitung al-Masry al-Youm Folterräume der Muslimbrüder.

„Mursi hat der Revolution gerade einen Schuss Adrenalin verpasst“, twitterte ein Omar Kamel von einer Protestdemonstration. Die Revolution wird weitergehen, bis das Establishment begreift, dass viele Ägypterinnen und Ägypter keine alten Männer mehr akzeptieren werden, denen man Gehorsam schuldet.

Zu diesem Establishment gehören allerdings auch die prominentesten Anführer der Opposition. Hamdeen Sabahi ist ein Nasserist, gehört also einer politischen Strömung an, die zwar eher für soziale Gerechtigkeit steht als die Muslimbruderschaft, aber auch für den Anfang der modernen Diktaturen in der arabischen Welt. Amr Moussa war Generalsekretär der Arabischen Liga, des Clubs der Diktatoren. Auch Mohammed al-Baradei gehört letztlich zur alten Garde. Dass diese drei nun mit ihrer Nationalen Rettungsfront die Speerspitze der Opposition sein sollen, zeigt vor allem, wie sehr die Revolution in Ägypten noch im Anfangsstadium steckt. Wäre einer von ihnen an der Regierung, erginge es ihm wohl kaum besser als dem Muslimbruder Mursi.

Hannah Wettig hat jahrelang für die libanesische Tageszeitung „Daily Star“ gearbeitet. Für die woxx berichtet sie über die Auswirkungen der „Arabellion“ in den verschiedenen Ländern.


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