ERZIEHUNG: Educateur – auf Profilsuche

Ein Gespräch über den Berufsstand des „éducateur gradué“ macht einen weitreichenden Reformbedarf sichtbar.

Eine fehlende Deontologie, Mobbing und nicht umgesetzte Ergebnisse aus Weiterbildungen sind Themen, die Sozialpädagogen zu schaffen machen. Während Marc Pletsch schon länger als Sozialpädagoge aktiv ist, steigt René Clemens dagegen erst in den Beruf ein.

woxx: „Il nous faut dorénavant une éducation personnelle, et non pas une attitude morale inculquée“, heißt es in einem Zitat. Was hat sich im Laufe der Zeit in der Erziehung verändert, und wie definiert sich der Beruf des „Educateurs“ heute?

Marc Pletsch: In den letzten fünfzehn Jahren, also der Zeit, in der ich in diesem Bereich aktiv war, hat sich vieles verändert. Klassische Aufgabenfelder des „Educateur“ und „Educateur gradué“ waren die Foyers oder auch die Sonderpädagogik in Behinderten-Institutionen. Mittlerweile sind die Erzieher verstärkt in den Schulbereich vorgedrungen, und die Beratung im sozialpädagogischen Bereich hat sich weiterentwickelt. Heute gilt nicht mehr, was noch vor zwanzig Jahren gegolten hat. Um auf das obige Zitat zurückzukommen: Heute geht es eher um eine persönliche und ganzheitliche Herangehensweise. Der Sozialpädagoge ist nicht nur der erste Ansprechpartner und muss auf Probleme reagieren, er muss auch zunehmend in der Prävention Akzente setzen. Deshalb sind Erzieher und Sozialpädagoge zwei sehr polyvalente Berufe. Es gibt keine einheitlichen Einsatzgebiete mehr.

Wird man heute auf diese Herausforderungen genügend vorbereitet?

René Clemens: Ich sehe die Schwierigkeit im Allgemeinen darin, dass der Beruf des Sozial-Pädagogen oder des Erziehers immer noch falsch verstanden wird, auch von den Akteuren selbst. Das Wort Erziehung stammt vom Lateinischen „ex ducere“ ab, was nichts anderes als „führen oder begleiten aus etwas heraus“ bedeutet. Dagegen sieht es in der Praxis oft so aus, dass die Erzieher nicht herausführen, sondern im Gegenteil den Kindern ihre Ängste und Launen aufzwingen und sie in Normen pressen, statt bedürfnisgerecht zu handeln. Ich verstehe die Diskussionen um die Anerkennung des Diploms – ein Diskurs, den es schon seit 20 Jahren gibt. Aber ich finde, dass die Forderungen im erstgenannten Bereich minimal sind und dass nicht genügend Druck auf die Politik ausgeübt wird, damit dieser Berufsstand verstanden und anerkannt wird. Ich denke, dass mehr Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden müsste. Und dass die Ausbildung in Luxemburg nur ungenügend auf den Beruf vorbereitet. Letztlich geht es darum, Erzieher zu „sein“, authentisch zu sein, sowie angemessen und kohärent zu handeln, und nicht nur so zu „tun“ als sei man Erzieher. Leider sind viele Erzieher davon weit entfernt – das jedenfalls ist die Erfahrung aus meiner bisherigen Praxis.

Marc Pletsch: Hier haben wir einen sehr großen Nachholbedarf. Jedoch auch die Erwartungen der Gesellschaft und der Arbeitgeber sind oft andere als die, die sich in der Praxis entwickeln müssten. Im Schulbereich zum Beispiel wird vom Erzieher und den Sozialarbeitern oft erwartet, Feuerwehr zu spielen – also schnell Lösungen für die verschiedensten Probleme parat zu haben. Wenn keine sofortige Klärung gefunden wird, werden die Akteure allzuschnell in Frage gestellt. Die Realität ist jedoch derart, dass die Erwartungen oft nicht so schnell zu verwirklichen sind.

Ist das ein Kommunikationsproblem zwischen Arbeitgebern und Erziehern? Werden pädagogische Konzepte nicht genügend ausgearbeitet?

René Clemens: Oft ist die Mission des Erziehers nicht klar definiert. Es gibt auch keine Deontologie im eigentlichen Sinne, diese wird in Luxemburg auch in der Ausbildung nur am Rande thematisiert. Das hat zur Folge, dass Erzieher sich in die Rolle der Feuerwehr drängen lassen, da ihre Rolle nicht klar definiert ist. Dagegen gibt es im Ausland, etwa in Belgien an der Schule die ich besucht habe, sogar spezielle Kurse zu diesem Thema, in denen den angehenden Erziehern bewusst gemacht wird, was der Einzelne gegenüber seinen Nutznießern, der Familie, den Arbeitskollegen oder gegenüber der Gesellschaft gewährleisten muss. Auch zu diesem Themenkomplex fehlt mir in Luxemburg die Öffentlichkeitsarbeit. Zudem wird nicht thematisiert, dass Erziehung häufig Resultate erst nach Jahren erzielen kann. Unsere kurzfristig denkende Gesellschaft ist zu sehr auf Ergebnisse fokussiert. Erziehung wird zu einem Produktionsbetrieb, in dem Gelder eingesetzt werden, mit denen ein Resultat erwirtschaftet werden soll.

Arbeitet der „Beruffsverband vun den Sozialpädagogen“ (APEG) an einer Deontologie?

Marc Pletsch: Seit mehreren Jahren sprechen wir diese Probleme an mit Politikern, den Arbeitgebern und Gewerkschaften … Es kommt mir so vor, als ob sie alle die Sache anders ansehen. Ein Jugendlicher verändert sich, da kann man nicht nach einem Jahr, wenn der Aktivitätsbericht auf dem Tisch liegt von einem Resultat sprechen – der Prozess geht ja weiter. Aber die Politik verlangt – auch über Konventionen – konkrete Zahlen. Und nach dieser Logik wird dann auch gearbeitet.

Das heißt, Sie würden den Hebel eher bei der Politik ansetzen, und weniger im Schulbereich?

Marc Pletsch: Der Schulbereich wird von der Politik instrumentalisiert. Die Autonomie der Schulen sollte eigentlich einen Wandel herbeiführen der zu einem Qualitätsgewinn führen muß und dies im Interesse der Kinder, ohne dass die Politik allzuviel intervenieren bräuchte. Sämtliche Ressourcen müssen dabei eingesetzt werden.

René Clemens: Ich glaube die Ansätze sind da. Aber ich sehe in Luxemburg einfach das Problem darin, dass jeder in seiner Ecke arbeitet. So gibt es Erzieher, die seit zwanzig Jahren auf ein und demselben Posten sitzen, den Blick für gesellschafltiche Veränderungen verloren haben und aus Angst allem Neuen gegenüber nicht willentlich sind oder nicht die Notwendigkeit sehen, etwas zu ändern. Ich habe im staatlichen Jugendheim in Dreiborn gearbeitet, da geht es im Prinzip nur darum, das Elend zu verwalten, eine schöne Fassade vorzuweisen und Gras über alles wachsen zu lassen. Das darf einfach nicht sein. Es gibt eine ganze Reihe von Jugendlichen, die dort überhaupt nicht hingehören. Die alten Gebäude sind nicht an die Bedürfnisse der Jugendlichen angepasst, sie hätten längst abgerissen und durch etwas Zeitgemäßes ersetzt werden müssen. Auch müsste ein Teil des Personals ausgetauscht werden, da einige trotz ihrer Ausbildung den Jugendlichen und deren Problemen nicht gerecht werden. Gerade erlebt man einen weiteren Rückschritt, nämlich die Implementierung der geschlossenen Abteilung der Unisec in Dreiborn. Diese Entwicklungen sind kontraproduktiv. Dass hier kein Erzieher, Sozialarbeiter oder Psychologe auf die Barrikaden geht und sich dagegen wehrt – das verstehe ich nicht. Ich steige erst in den Beruf ein, aber es gibt Dinge, die mich schon jetzt anwidern.

Marc Pletsch: Wir haben mehrmals den Versuch unternommen, gegen solche Mißstände zu protestieren. Jedoch besteht eine gewisse Angst vor dem Urteil des Arbeitgebers oder anderer Mitarbeiter. Bei der letzten großen Kundgebung im Febuar 2012 im Cercle Cité haben viele Erzieher es abgelehnt, fotografiert zu werden, aus Angst von ihrem Arbeitgeber erkannt zu werden. Nutzen tut dieser Zustand vor allem der Politik und den Arbeitgebern.

Mobbing ist also gerade im sozialen Bereich ein Problem?

René Clemens: Ja. Wenn du einmal einen schlechten Namen hast, dann findest du so schnell keine andere Anstellung mehr.

Könnten Supervision und Weiterbildung hier neue Wege zeigen?

Marc Pletsch: Hier werden viele Anstrengungen unternommen. Die Ergebnisse einer Supervision oder Weiterbildung müssen jedoch auch vom Arbeitgeber respektiert werden. Im Erziehungsbereich verfügt der „Service de Coordination de la Recherche et de l´Innovation pédagogiques et technologiques“ über ein sehr gutes Angebot. Jedem Erzieher steht zudem eine gewisse Stundenanzahl für die Weiterbildung zu. Wichtig ist jedoch vor allem, dass die vermittelten Inhalte auf dem Terrain umgesetzt werden können und dass dazu dann auch die Mittel vorhanden sind.

René Clemens: Ich denke, es liegt hier auch an jedem Einzelnen. In der Schule zum Beispiel haben Einzelpersonen erwirkt, dass Kinder mit Behinderungen in normale Klassen integriert werden – obwohl ihnen sowohl vom Ministerium als auch von Lehrbeauftragten hier dauernd Steine in den Weg gelegt werden. Vieles ist möglich durch persönliches Engagement. Leider belassen es viele nur bei ihrer eigentlichen Arbeit und sind darüber hinaus nicht willentlich etwas zu verändern oder kritisch zu hinterfragen. Hier fehlt mir auch ein Engagement einer Berufsorganisation.

Marc Pletsch: Ich verstehe diese Bedenken. Wir hatten schon Treffen zu diesen Themen; Initiativen ersticken jedoch oft im Keim, da wir nur über eine gewisse Anzahl an Mitgliedern verfügen und diese überdies in verschiedenen Organisationen und Gewerkschaften aufgesplittert sind. Zudem hat unsere Klientel keine Lobby, und wo eine solche fehlt, da passiert politisch auch nicht viel. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine Gewerkschaft eher aktiv wird bei Problemen von Arcelor-Mittal oder Cargolux als bei Konflikten in Dreiborn, in einem Foyer oder beim Streetwork.

René Clemens: Das erklärt trotzdem nicht, warum die Erzieher selbst sich nicht mehr engagieren, um ihre eigenen Projekte voranzubringen. Zurzeit habe ich den Eindruck, dass alles stagniert und die Kinder sowohl in den Maisons relais als auch in den Foyers zum großen Teil nur verwaltet werden. Das darf nicht sein.

Marc Pletsch: Wir versuchen über den im April in Luxemburg stattfindenden Weltkongress der Sozialpädagogen, auf dem wir uns mit ausländischen Berufskollegen austauschen, einen neuen Weg zu finden. Wir wollen dann auch an einer Deontologie auf EU-Ebene arbeiten, um über diesen Weg Druck auf die Politik auszuüben und den Arbeitgebern die Bedingungen klarzumachen, unter denen der Sozialpädagoge einsetzbar ist.

Im Mittelpunkt der Sozialpädagogik steht das Kind oder der Jugendliche. Wie kann die Qualität der Arbeit eines Erziehers verbessert werden?

Marc Pletsch: Es kann nur funktionieren, wenn die einzelnen Beteiligten – Sozialpädagogen, Eltern, Arbeitgeber und Politiker – sich zusammensetzen und miteinander kommunizieren.

René Clemens: Aber das müsste zuerst auf der individuellen Ebene funktionieren. Bei einigen Erziehern, mit denen ich zusammengearbeitet habe, habe ich mich gefragt, wie sie es überhaupt an diese Arbeitsstelle geschafft haben und wie sie trotz allen Widrigkeiten immer noch dort arbeiten können? Ich habe Erzieher erlebt, die in Krisensituationen Fahnenflucht begangen haben. Sie wurden nicht wirklich auf die Realität ihrer Arbeit vorbereitet. Wichtig ist in der Ausbildung eine Infragestellung der Praxis. Meine ganze Arbeit als Erzieher muss idealerweise vor allem darin bestehen, dass ich mich selbst in Frage stelle.

Marc Pletsch: Ein solches Bewusstsein kann auch durch eine Deontologie gefördert werden.

Welche Rolle spielt hier der Arbeitgeber?

René Clemens: Ich glaube schon, dass der Arbeitgeber ein Interesse daran hat, dass es gut läuft. Jedoch hat er auch Angst davor, dass sich Personen verbünden gegen ein etabliertes System. Ein anderes Problem ist, dass viele Erzieher ihre Arbeiten delegieren, sie geben die Verantwortung in einem gewissen Sinne an andere ab und machen nur das, wofür sie angestellt sind. Zudem schwächelt die Kommunikation, das sieht man bei den Maison relais, wo eine Verbindung mit der Schule und den Eltern nur teilweise gegeben ist. Lehrer stellen sich quer, weil sie mit den Erziehern nicht klarkommen, und Erzieher vereinbaren Termine mit den Eltern, informieren die Schule jedoch nicht.

Marc Pletsch: Ich habe seit 2000 in drei verschiedenen Gymnasien gearbeitet, und genau dieses Kompetenzgerangel festgestellt. Das Problem ist die Kommunikation, man redet aneinander vorbei oder unterlässt es überhaupt ganz, miteinander zu sprechen. Auch der Zeitaufwand spielt eine Rolle, es gibt immer noch Lehrer, die der Meinung sind, dass es nicht ihre Aufgabe ist, auf Versammlungen zu kommen, um über Privatprobleme der Schüler zu reden. An dieser Einstellung sind die Gewerkschaften mit ihren Forderungen nicht ganz schuldlos. Zudem fürchtet man von der Schulreform einen Zuwachs an Arbeit. All das ist kontraproduktiv für die Kommunikation.

René Clemens: Und es geht so weit, dass in den Maisons Relais den Erziehern jetzt noch die Aufgabe übertragen wird, die Kinder bei den Hausaufgaben zu begleiten. Die reine Wissensvermittlung ist jedoch nicht die Aufgabe eines Pädagogen, sondern die der Schule. Warum gehen deswegen die Erzieher nicht auf die Barrikaden?

Marc Pletsch: Sozialpädagogen und Erzieher werden oft als Lückenfüller eingesetzt.

René Clemens: Die große Gefahr liegt darin, dass der Beruf des Pädagogen missbraucht wird; später kommen dann Schuldzuschreibungen, ein ganzer Berufsstand erhält so einen schlechten Namen.

Die Zeitungen sind voll mit Stellenangeboten für Pädagogen …

Marc Pletsch: Die vielen Stellenausschreibungen kommen vor allem daher, dass viele Frauen wegen der Familiengründung nur noch zwanzig Stunden arbeiten, respektive ein Congé sans solde beantragen.

René Clemens: Was mich schockiert, ist dass so viele Frauen in dem Beruf tätig sind – wo bleiben die männlichen Vorbilder für unsere Kinder und Jugendlichen? Frauen kämpfen darum, in typisch männliche Berufe zu gelangen, warum können wir hier nicht eine Männerquote fordern? Letztlich ergreifen noch immer zu wenig Männer den Beruf des Sozialpädagogen. Erziehung ist nach wie vor Frauensache und es scheint dass die Emanzipation des Mannes weiterhin auf sich warten lässt.

Marc Pletsch: Im Ausland gibt es ähnliche Probleme. Die Genderproblematik ist ein Thema beim Kongress im April.

 

Zu den Personen:


Marc Pletsch
wurde 1971 in Ettelbrück geboren. Nach Politikstudien an der „Université libre de Bruxelles“ (ULB) entschied er sich für eine Ausbildung als Sozialpädagoge am „Institut d’études éducatives et sociales“ (IEES). Seither hat er als Sozialpädagoge bei der „Action locale pour jeunes“ in Dreiborn, im SPOS des „Lycée technique Nic Biever“ (LTNB) in Düdelingen und in einer „équipe pédagogique“ am Lycée Ermesinde und am Lycée Bel-Val gearbeitet. Seit 2004 ist er Präsident des „Beruffsverband vun de Sozialpädagogen“ (APEG).

René Clemens, 48 Jahre, ist ursprünglich Industrie-Zeichner. Beruflich hat er als Angestellter unter anderem im Bereich der Buchhaltung und Gehaltsabrechnung, sowie als Disponent einer Handelsgesellschaft und schließlich als Verkäufer im Innenausbau gearbeitet bevor er sich im Alter von 45 Jahren zu einer Fortbildung auf dem zweiten Bildungsweg für den Beruf des Sozialpädagogen entschlossen hat. Während seiner Ausbildung hat er unter anderem im Kinder- und Jugendbereich sowie mit Behinderten gearbeitet.


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