VERGANGENHEITSSBEWÄLTIGUNG: Unter Deutschen

Aus der Perspektive eines jüdischen Re-Emigranten beschreibt Ursula Krechels preisgekrönter Roman „Landgericht“ eindringlich die vergiftete Atmosphäre im bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunder“ nach der militärischen Niederwerfung der deutschen Volksgemeinschaft.

Literarischer Stil, der den
LeserInnen Einfühlung ermöglicht:
Die Autorin Ursula Krechel.

In den Fünfzigerjahren herrschte in Deutschland Stille: Über die NS-Zeit wurde geschwiegen und kaum geschrieben. Günter Grass‘ verschwurbeltes Epos „Die Blechtrommel“ (1959), in dem die ?miefigen‘ Wirtschaftswunderjahre aus der Sicht eines Kindes beschrieben werden, ist die deutsche (Nicht-)Antwort auf eine Vergangenheit, die partout nicht vergehen wollte. Ein Historienschinken, der zum Bestseller avancierte und zur Schullektüre wurde. Balsam für das nationale Selbstbewusstsein, verkehrt er doch Täter und Opfer.

Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ kann nur bedingt als das literarische Pendant hierzu für die DDR betrachtet werden: Ihr 1976 veröffentlichtes Buch ist ein Roman, der weniger den Zeitgeist der realsozialistischen Republik widerspiegelte, sondern tatsächlich Tabus brach ? und damit das Schweigen über die NS-Zeit und die postnazistischen Wirtschaftswunderjahre. Dies gelang unter anderem, weil die Autorin Fragen stellte, anstatt in maskuliner Manier Antworten auf die „Missgeschicke“ des letzten Jahrhunderts zu geben. Nun ist mit „Landgericht“ nach Langem ein gewichtiger Roman zur Nachgeschichte des NS erschienen, der anhand eines Einzel-Schicksals (die) Etappen der Entwürdigung eines jüdischen Richters nachzeichnet, von der sukzessiven Entrechtung während der NS-Zeit bis hinein in die späten Fünfzigerjahre. Die Autorin Ursula Krechel ist dafür jüngst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden.

Der Protagonist des Buches, Richard Kornitzer, geboren 1903 in Breslau, arbeitet als promovierter Jurist in Berlin, als er 1933 aus dem Justizdienst entlassen wird, weil er Jude ist. Er flieht 1939 ins Exil nach Kuba und kehrt 1948 zurück, um zu versuchen, seine zertrümmerte Existenz wieder zusammen zu fügen. Anhand seiner Person zeichne Krechel bald „poetisch, bald lakonisch, [?] präzise ihr Bild der frühen Bundesrepublik – von der Architektur über die Lebensformen bis hinein in die Widersprüche der Familienpsychologie“, heißt es in der Begründung der Jury zu ihrer Entscheidung. „Landgericht“ sei „ein bewegender, politisch akuter, in seiner Anmutung bewundernswert kühler und moderner Roman“. FAZ-Rezensent Andreas Platthaus versteigt sich sogar zu der Behauptung, das Buch übe jene Gerechtigkeit, die seinen Protagonisten verwehrt bliebe. „Die Autorin verschreibt sich hier nicht nur einem individuellen, sondern einem Generationenschicksal.“ Das Buch werde zu einer Anklageschrift, die ganz Deutschland vor Gericht stelle.

Krechels Roman als Anklageschrift zu deuten, ist zu hoch gegriffen.

Starkes Lob für einen fast 500-Seiten langen Roman, der erzählerisch nicht mit detailverliebten Beschreibungen geizt. Auch sprachlich ist das im Herbst prämierte Werk der in Trier geborenen Journalistin nicht frei von gekünstelten Redewendungen und setzt bisweilen auf Effekt zielende, sehr gewichtige Ausdrücke. So ist die Rede von „Tage[n], wie mit dem Rasiermesser geritzt, Tage[n] der brüllenden Leere.“ Oft sind es scharfe Metaphern, wie „Trümmerexistenz“, die an Herta Müllers „Herzschaufel“ erinnern und haften bleiben.

Im Großen und Ganzen ist Krechels Sprache aber dennoch eher nüchtern und wohltuend frei von jeder philosemitischen Betulichkeit. Denn die Autorin verlegt sich aufs akribische Beschreiben und schildert ausführlich das lange Ausblenden der politischen Realitäten ihres geflissentlichen Helden „[?] Kornitzer war kein Glaubensbruder, er war ein abtrünnig gewordener Bruder, und dass nur Hitler oder seine absurde Gesetzgebung, wer ein Geltungsjude, ein halber Jude, ein Vierteljude oder ein Nennjude war und wie seine Kinder zu schikanieren waren unter welchen Bedingungen, ihn an seine Herkunft erinnerten, das wollte er in der Tat nicht an jenem Tag wissen, solange er noch juristische Fachzeitschriften gelesen hatte, solange er noch in öffentliche Bibliotheken ging, solange ihm noch die Staatsbibliothek offen stand [?].“

Sachlich beschreibt Krechel wie sich in den Fünfzigerjahren die deutschen „Entnazifizierungsgeschädigten“ in „Entnazifizierungsopfer“ verwandelten – gleichgültig wie eng jeweils die Verstrickung in das Verbrechen des Nationalsozialismus war. Der Romanprotagonist ist gelähmt angesichts dieser Entwicklungen: „Ich bin in einer Mitläuferfabrik gelandet, sagte Kornitzer, wenn er mit dem Postbus aus der Stadt in den Weiler kam.“

Die Autorin liefert keine Antworten, wie es zu all dem kommen konnte, sondern verlegt sich ganz und gar aufs Beschreiben. Gerade auf diese Weise macht sie Anteilnahme möglich. Am nachdrücklichsten wirkt dies, wenn sie aus dem Alltag des Ehepaares Kornitzer vor dem Gang ins Exil erzählt. So platzt in den Sommer 1933, in dem er und seine Frau Claire (protestantischer Konfession) am Strandbad Wannsee schwimmen gehen, das Badeverbot für ?Nicht-Arier‘. „Kornitzer las die Verordnung, las sie zweimal, dreimal, fassungslos über die Demütigung, fassungslos, dass dies das letzte Sommerglück gewesen war. Dass die Machthaber ausgerechnet das Badevergnügen mit Sanktionen belegten, machte ihm klar, jede körperliche Nähe zwischen Ariern und Juden sollte und musste verboten werden.“ Doch Richard Kornitzer hat Glück. Zumindest mehr Glück als Millionen andere. Er schafft es zu fliehen, nur um am Ende an der Atmosphäre der frühen Bundesrepublik und an den Demütigungen des (Berufs-)Alltags zu ersticken. Am Landgericht Mainz findet der gewissenhafte Jurist Kornitzer keinen Platz mehr und beschließt so seinerseits, sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen zu lassen.

Krechels Roman als Anklageschrift zu deuten, ist zu hoch gegriffen. Dafür ist „Landgericht“ letztlich zu wenig zugespitzt, verzichtet auf politische Hintergründe und starke Interpretationen. Nicht zuletzt diese Zurückhaltung dürfte die Jury dazu bewogen haben, das Buch und seine Autorin auszuzeichnen.

Ursula Krechel – Landgericht. Jung und Jung, 496 Seiten.


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