SLUMTOUR IN MUMBAI: Drachensteigen auf dem Müllberg

Januar ist der Monat der Ferienkataloge. Keine Lust auf Sandstrand und Sonnenbrand? Vielleicht lieber eine Slum-Safari, wie sie mittlerweile in mehreren Großstädten des Südens angeboten werden? Ein kritischer Bericht aus Indien.

Alles Banane? Slum-Shirts und Stofftaschen im Merchandising-Angebot von Reality Tours.

Drei Kinder in ärmellosen, schmutzig verschwitzten Shirts und kurzen Shorts laufen barfuß über eine mit zertrampelten Plastikflaschen und zerfetzten Plastiktüten übersäte Ebene. Eine Mauer! Sie springen drüber, landen auf einem Wellblechdach und entkommen schließlich in den engen Gassen eines Slums ihren beiden Verfolgern – zwei Polizisten, Sonnenbrillenträgern in khakifarbener Uniform, die drohend ihre Holzstöcke schwingen.

Die bekannte Verfolgungsjagd aus dem Film „Slumdog Millionaire“ spielt sich in Dhavari, Mumbais größtem Slum, ab. Er liegt im Herzen von Indiens Wirtschaftsmetropole, einer Stadt von 18 Millionen Einwohnern, von denen 50 Prozent in Slums leben, in der es aber mehr Millionäre gibt als in Manhattan. Mumbai weist mit 40.000 Einwohnern pro Quadratkilometer nach Hongkong die zweithöchste Bevölkerungsdichte der Welt auf. Täglich strömen weitere 300 Familien in die an der indischen Westküste gelegene Metropole. Sie fliehen vor der Armut und der Arbeitslosigkeit auf dem Land und hoffen, in der Heimatstadt des Bollywood-Genres ein besseres Leben zu finden.

Doch im Slum trifft man auch unerwartete Besucher: Touristen! Ich stehe an einer der Dhavari durchquerenden zentralen Straßen mit einer Gruppe von vier etwas älteren norwegischen Lehrerinnen, einem noch recht jungen japanischen Journalisten und zwei Reality Tour Guides in hellblauem Hemd. Die beiden stammen nach Angaben der Reality Tour-Internetseite aus ärmeren Verhältnissen.

Slum-Ansichten

Ich blicke umher. Links von uns befindet sich ein Bücherstand, vor allem mit Sudoku- und Kinderbüchern. Ich frage mich, ob der Verkäufer selbst lesen und schreiben kann ? möglicherweise ein wenig, denn immerhin sollen 65 Prozent der Slumeinwohner alphabetisiert sein. Die ersten Läden haben bereits geöffnet. Sie sind nicht besonders groß, drei bis vier Regale, vollgestopft mit Ess- und Haushaltswaren. Die Zulieferung besorgen ausgemergelte, schweißnasse Lastenträger, die turmhoch mit Kartons beladene Holzkarren durch die Straßen schieben. Man sieht Schulkinder mit Schuluniformen und Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen. Muslime ebenso wie Hindus tummeln sich auf den belebten Achsen des Slums, wie die Guides erläutern, doch die Wohnquartiere bleiben klar nach religiöser Zugehörigkeit getrennt.

Vor etwa zwei Jahren hörte ich zum ersten Mal vom sogenannten Slumtourismus und fand die Vorstellung, Touristen durch Elendsviertel zu führen, ethisch ziemlich grenzwertig. Ich fragte mich, ob dies nicht den „Völkerschauen“ vergleichbar sei, wie sie seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts veranstaltet wurden. Damals wurden in Schaubuden, auf Ausstellungen und in Zoos außereuropäische Menschengruppen als exotische Sensation vorgeführt. Auch mit den Slumtouren scheint Armut in eine Ware in Form von Erlebnisqualität umgewandelt zu werden, die Touristen für Geld konsumieren können. Neugierig, ob dem so sei, habe ich die zehn Euro bezahlt, von denen jeweils acht einem „wohltätigen Zweck“ zugute kommen, und mich für eine Slumtour angemeldet.

„Wir wollen euch heute die positiven, die unternehmerischen Seiten des Slums zeigen“, verkündet der Guide. Anschließend unterrichtet er uns über die staatliche Anerkennung des Slums, die mit sich bringt, dass die Regierung die Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie öffentliche Schulen bereitstellt. „Und bitte keine Fotos machen, wir wollen die Einwohner nicht in ihrem Alltag stören“, mahnt er nach seiner Einleitung noch.

Als erstes bewegen wir uns auf einen Schuppen zu, aus dem Lärm dringt. Drinnen liegen neben einem rostigen Schredder zahllose weiße Plastikbecher. Vor dem Mahlwerk häufen sich Plastikkrümel, die, wie wir erfahren, für umgerechnet 40 Cent pro Kilo weiterverkauft werden. „Sehr gut, sehr gut“ kommentiert während der Ausführungen die älteste der Lehrerinnen in überinteressiertem Tonfall. Gleichzeitig notiert sich der japanische Journalist, was ihm auffällt. Er hat bereits ein Buch zum Thema Recycling in asiatischen Großstädten veröffentlicht; das Buchcover hat er mir vor der Tour auf seinem Mobiltelefon gezeigt.

Lebe und arbeite!

Gegenüber der Recyclingwerkstatt befindet sich eine Halle, in der Metall verarbeitet wird. Bei schlechtem Licht und mangelhafter Ventilation schweißen und hämmern hier Arbeiter für einen Tageslohn von zwei bis vier Euro. Vor dem Eingang erläutert der junge Mitarbeiter von Reality Travel: „Diese Menschen leisten sich keine Wohnung im Slum, sie schlafen nachts in der Werkstatt, so können sich die Eigentümer Nachtwächter für das Atelier sparen.? Trotzdem erhielten die Arbeiter nicht den von der Regierung festgesetzten Stundenlohn von 40 Cent. Dann führt der Guide aus, die „large scale industry? könne kaum mit den Kleinbetrieben mithalten und deswegen in Mumbai nicht wirklich Fuß fassen. 

Wie die Menschen in der Recyclingwerkstatt, und überhaupt überall in den Straßen Dhavaris, zeigen sich auch die Metallverarbeiter ziemlich indifferent gegenüber unserer Besichtigung. Wahrscheinlich haben sie sich mittlerweile an die Touristengruppen, die seit 2006 täglich zweimal durch ihr Viertel geführt werden, gewöhnt.

Anschließend schlängeln wir uns durch die schmalen „golis“, die Gassen des Slums, um zu den sanitären Anlagen Dhavaris zu gelangen. In den engen, dunkeln Passagen erleben wir das Alltagsleben der Bewohner aus allernächster Nähe. Männer und Kinder liegen auf dem kühlen Boden ihrer kleinen rosa, grün oder blau gestrichenen Betonbehausung und lachen über die Familiendramen der neuesten Seifenopern. Die Frauen kochen oder spülen währenddessen.

Feel good, feel bad

„Oh wow, die Leute begrüßen uns, lachen und sind äußerst freundlich“, freut sich die etwas jüngere, ordentlich geschminkte Lehrerin in ärmellosem Shirt. Doch dann sieht sie den Müllberg vor den sanitären Einrichtungen, auf dem Kinder mit Drachen spielen und fragt erschrocken – als hätte man nach so viel Freundlichkeit eigentlich norwegische Müllabfuhrverhältnisse erwarten dürfen: „Kommt denn niemand, um diesen Abfall zu entsorgen?“ „Nein, niemand entsorgt hier den Müll, aber diese Menschen kümmern sich auch nicht um ihre Umwelt. Man kann nicht für alles die Regierung verantwortlich machen“, antwortet einer der Guides, bevor er mit Blick auf die Toiletten erläutert, dass nur ein Prozent der Haushalte eine eigene Toilette besitzen.

Anschließend zeigt er auf ein nicht bewohntes, verwahrlostes mehrstöckiges Hochhaus hinter uns, das vor fünf Jahren von der Regierung kostenlos für Slumbewohner als Wohnhaus bereitgestellt wurde. Der Zweck war, Bewohner Dhavaris umzusiedeln, um Land für wirtschaftliche Zwecke zu gewinnen. „Doch niemand will in solch einem Gebäude wohnen, es ist außerdem total ungeeignet, um darin erwerbstätig zu sein. Wie sollen die Töpfer dort ihre getöpferten Gegenstände brennen?“ kommentiert der junge Inder empathisch.  

Die Guides gehen anschließend zur Reality-Tours-Eigenwerbung über. „Uns ist wichtig, dass ihr wisst, was mit eurem Geld passiert, deshalb möchten wir euch jetzt die Förderschule zeigen, die mit eurem Geld finanziert wird“. Wir betreten einen kleinen Ausstellungsraum, in dem an den Wänden Fotos hängen, geschossen von Slumkindern mit von der Organisation angeschafften Fotoapparaten. Nachbarkinder, Brüder, Schwestern, Papadams backende Frauen und – ganz im Stil zeitgenössischer Kunst – verkantete Schnappschüsse füllen die gelben Wände, an denen die Farbe jedoch bereits abzubröckeln beginnt.

In dem angrenzenden Unterrichtssaal singen Jugendliche. An der Längswand stehen Computer, in einer Ecke befindet sich eine kleine Bibliothek mit drei Bücherregalen, an den Wänden hängen bunte Bilder. „Hier dürft ihr Fotos machen, denn dieser Raum gehört Reality Tours“, informiert uns der Guide. „Oh dürfen wir wirklich? Schulen sind für uns von besonderem Interesse,“ freut sich die jüngere Lehrerin wiederum und wühlt in ihrer Tasche nach dem Fotoapparat. Alle fühlen sich erleichtert, der sogenannte Slumdog-Millionär-Feel-good-Effekt packt uns. Hier wird vorgeführt: Jemand tut etwas gegen die Zustände im Slum. Und wir mit unseren Kronen, Yens und Euros sind daran beteiligt. Den Touristen will Reality Tours vielleicht vermitteln, dass sie dank der Slumtour ein gutes Gewissen haben können.

Damit steht der Veranstalter nicht allein. Einen ähnlichen Feel-good-Effekt in Bezug auf das Harlem Mumbais streben auch die Autoren von „Little Poor Rich Slum? an, einem Buch, das seit Kurzem in jedem indischen Bücherladen verkauft wird. Das Leben im Slum wird zu diesem Zweck romantisiert, und Dhavaris Einwohner werden als ausnahmslos glücklich dargestellt: „Ein Slum voller Energie, Unternehmergeist und Hoffnung. Hier ist jede Hand beschäftigt, kein Kopf gesenkt. Hier hätten die Menschen Grund, sich elend zu fühlen, doch sie haben sich entschieden, glücklich zu sein. Eine Entscheidung, die jeder treffen kann.“

Auf eine solche Romantisierung zielt die Slumtour nicht ab. Es wäre sicherlich auch falsch, zu behaupten, Reality Tours ziele auf einen plumpen „poverty porn“ ab, nach einem Schimpfwort, das Filmstar Amithab Bhachan für „Slumdog Millionnaire“ prägte. Allerdings blenden die Guides bei ihren Erläuterungen die Gründe für Landflucht und deren globale und lokale wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge aus. Auch die in der Fachliteratur zu den indischen Slums untersuchten Probleme, wie die hohe Kindersterblichkeit, die Kinderarbeit, die Zwangsprostitution und der mafiöse Charakter der Schattenwirtschaft, waren kein Thema. Die bei der Tour vermittelten Informationen nicht in einen größeren Kontext zu stellen und den Teilnehmern das Gefühl zu vermitteln, sie täten mit dem Unterhalt einer Förderschule „Gutes“, ist deshalb letztendlich eine Einladung zum Nicht-weiter-Denken.


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