IN FINSTEREN ZEITEN: Der Geist der Zigarre

Robert Seethaler hat mit „Der Trafikant“ einen Bildungsroman geschrieben, dessen Handlung sich vor dem Hintergrund des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland entspinnt. Er erzählt auch von der widerständigen Kraft des Denkens.

„An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte.“ Ein Blitz erschlägt den im See badenden Alois Preininger, der in der oberösterreichischen Provinz zu den reichsten Männern zählte und die regelmäßigen Liebesdienste von Franz` Mutter pünktlich zu jedem Monatsende mit einem schönen Geldbetrag quittierte. Die unbeschwerte Jugend des Jungen ist mit dem Tod des eigennützigen Wohltäters zu Ende. Seine alleinerziehende Mutter beschließt, ihn nach Wien zu schicken, wo ihr ein anderer ehemaliger Geliebter noch einen Gefallen schuldet. Otto Trsnjek betreibt im 9. Stadtbezirk eine Tabaktrafik, eine typische Wiener Verkaufsstelle für Rauch- und Pressewaren. Er nimmt den unbedarften Siebzehnjährigen bei sich auf.

In Wien hat Franz von Anfang an mehr zu fürchten, als einen starken Sommerregen. Das unterirdische Brodeln und unaufhörliche Brausen, das ihn bei seiner Ankunft verwirrt, deutet „etwas völlig und ganz anderes“ an: den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938. Robert Seethalers Roman „Der Trafikant“ ist ein Bildungsroman in finsterer Zeit.

Franz` Einweisung in das Trafikantenleben beginnt dennoch scheinbar gemächlich. Er wird aufgefordert, jeden Morgen pünktlich auf einem Hocker neben der Eingangstür Platz zu nehmen und den Rest des Tages „etwas für Hirn und Horizont zu tun, sprich: Zeitung lesen“. Denn „keine Zeitungen zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein“. Trsnjek spricht wenig, umso kategorischer sind seine Anweisungen zur richtigen Zeitungslektüre. Mit einem flüchtigen Titellesen oder eiligen Durchblättern einiger weniger Tagesblätter sei es nicht getan, ein richtiger Trafikant müsse alle angebotenen Zeitungen kennen, den Leitartikel, die wichtigsten Kolumnen und Kommentare, lokale und internationale Meldungen, die Kulturdebatten ebenso wie die Sportnachrichten. Franz, der Zeitungen bisher nur als handlich zusammengeschnittene Papierfetzen auf dem heimischen Abort gekannt hatte, gewöhnt sich mit Mühe ans Lesen, bis er eines Tages merkt, dass ihm die Lektüre Vergnügen bereitet, weil er zwischen den vielen Druckseiten etwas Neues durchschimmern sieht: „eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt“.

Zwischen den Druckseiten der Zeitung schimmert etwas Neues hindurch: „eine kleine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt“.

Ein Wiener Trafikant muss freilich nicht nur die Lektürevorlieben seiner Kunden kennen, sondern sich auch ihre Namen und die dazugehörige Anrede merken. Neben der Witwe mit dem doppelten Doktortitel und dem pensionierten Kommerzialrat gibt es in der Stadt so viele sogenannte Professoren „wie Kieselsteine an der Donau“. Und doch erkennt Franz in dem hageren, alten Mann, der eines Tages mit schmerzverzerrtem Mund eine Kiste Virginias und die „Neue Freie Presse“ verlangt, sofort den echten Professor Sigmund Freud, aus der nahegelegenen Berggasse. Gerüchte über den „Deppendoktor“ waren bis ins Salzkammergut vorgedrungen. Nun steht er vor ihm, noch dazu ein wirklicher Jude. Denn auch Juden hatte er bisher nur aus den Gerüchten der Dorfbewohner und den antisemitischen Karikaturen in den Zeitungen gekannt.

Franz nutzt die erste Gelegenheit, um mit Freud ins Gespräch zu kommen. Der Professor gibt sich jedoch wortkarg, er will sich der Anhänglichkeit des Jungen erwehren, indem er ihm rät, sich ein Mädchen zu suchen, statt psychoanalytische Schriften zu lesen. Prompt verliebt sich Franz im Prater unglücklich in eine böhmische Tänzerin und sitzt fortan noch öfter vor der Haustür der Berggasse 19. Freud ist die neugierige Aufdringlichkeit
lästig, gleichzeitig rührt ihn die naive Wissbegierde des jungen Trafikanten, der ihn ein ums andere Mal mit einer Zigarre Marke Hoyo de Monterrey und dem dazugehörigen Werbespruch zu bestechen weiß: „Eine aromatische Habano, die leicht im Geschmack ist, jedoch durch große Eleganz und Komplexität überzeugt.“

Die Lektüre des Romans beschert den Genuss, den der Rauch dieser sehr guten Zigarre verspricht. Seethaler vollzieht die von Freud in seinen Vorlesungen geforderte Wendung zum „Abhub der Erscheinungswelt“. Die Dramatik der politischen Entwicklung wird allein in der Auskonstruktion kleiner Alltagsepisoden erfahrbar. Dabei bleibt der Erzählton bis zuletzt von lakonischer Leichtigkeit.

Binnen weniger Monate lernt Franz bei Trsnjek Gesten des Widerstands gegen den anschwellenden Hass der österreichischen Nationalsozialisten. Der benachbarte Schlachter Roßhuber begnügt sich nach dem Anschluss an das Großdeutsche Reich nicht mehr damit, die Auslage der Trafik mit Schweineblut zu beschmieren. Er lässt das Ladengeschäft von Schlägertrupps verwüsten und zeigt den „Judenfreund“ Trsnjek wegen des heimlichen Verkaufs von „Wichsheftln“ bei der Gestapo an. Tagelang wird Franz in der Mittagspause in der Gefängniszentrale am Moritzplatz vorstellig, um Auskunft über den Verbleib seines Lehrmeisters zu bekommen. Schließlich überreicht man ihm ein Paket mit dessen letzten Habseligkeiten und ernennt ihn selbst zum neuen, vorläufigen Geschäftsführer.

Doch in der Trafik liegen nur noch gleichgeschaltete Zeitungen zum Verkauf aus. Franz hat längst aufgehört, sie zu lesen. Seine Freundin Anezka hat sich den neuen Zeiten angepasst und mit einem SS-Mann liiert. Freud wird zur Emigration nach England gezwungen. Franz bleibt allein zurück. Als er an einem trüben Vormittag einen Vogelschiss an der Auslagenscheibe erblickt, kommt ihm ein genialer Einfall: Fortan klebt er jeden Morgen einen Zettel mit seinem nächtlichen Traum über den Scheißebatzen. Die Idee belebt das Geschäft. Seine merkwürdigen Kritzeleien locken sogar junge Braunhemden und vornehme Herren mit Hakenkreuzanstecker in die Trafik. Auf dem letzten Zettel, den Franz an die Scheibe klebt, steht: „Der See hat auch schon bessere Zeiten gesehen, die Geranien leuchten in der Nacht, aber es ist ja ein Feuer, und getanzt wird sowieso immer?“

Robert Seethaler – Der Trafikant.
Verlag Kein & Aber, 250 Seiten.


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