BEN LEWIN: Ohne Mitleid

Der Spielfilm „The Sessions“ über Mark O’Briens Sex-Therapie-Sitzungen böte genug Klischees, um ein Flop zu werden. Doch Dank einer überzeugenden Besetzung gelingt ihm ein großer Wurf …

Kein klassischer Hollywoodheld:
John Hawkes in der Rolle des Mark O’Brien.

Ein weiterer Film über das heikle Thema „Sexualität und Behinderung“? Nach den letzten klamaukigen Verfilmungen, dem französischen Kassenschlager „Intouchables“ und der belgischen Komödie „Hasta la vista“ ist Skepsis geboten. Denn gerade beim Thema „Sexualassistenz“ kann man sich leicht die Finger verbrennen, zumal wenn man daraus gleich einen Hollywoodschinken macht und es ernsthaft angeht – eben mehr zeigt, als nur Ohren streicheln. Der australisch-amerikanische Regisseur Ben Lewin, der selbst im Alter von sechs Jahren an Polio erkrankte, hat es gewagt und für seine Verfilmung „The Sessions“, basierend auf einer wahren Geschichte des Journalisten Mark O’Brien, prompt eine Oscar-Nominierung für Helen Hunt in der Nebenrolle der Sexualassistentin Cheryl Cohen Greene eingeheimst. Eine Rolle, die Helen Hunt trotz Botox und einer maskenhaften Make-Up-Schicht sensibel und überzeugend spielt.

Mark O’Brien (John Hawkes), als siebenjähriger an Kinderlähmung erkrankt, ist seitdem vom Kopf ab gelähmt. Zu Beginn des Films ist er 38 Jahre, lebt mit einem riesigen Apparat, einer eisernen Lunge, die ihn künstlich beatmet. Darin steckt er wie in einem Tunnel und kommt allenfalls zwei Stunden ohne sie aus. Freilich nur mit einer Assistenz, die ihn auf einer Bahre durch die Gegend schiebt. Trotz dieser trostlosen physischen Ausgangssituation ist O’Brien geistig beweglich und ein kreativer, lebensbejahender Mensch, der sich nicht auf seine körperliche Einschränkung reduziert wissen will und: Er ist gläubig. Seine Sorgen schüttet er Sonntags dem Priester Brendan (William H.Macy) aus, der ihm Mut macht, schon mal mit einem Sixpack Bier unterm Arm bei ihm vorbeischaut und ihn beharrlich motiviert, seine Pläne umzusetzen. „Ich mag nicht wie sie mich anschaut“ fasst O’Brien sein Unbehagen über seine erste Assistentin in Worte. „Dann feuer sie doch!“, rät ihm der Priester, als er ihm sein Leid über die klassische Mitleids-Attitüde gegenüber Menschen mit Behinderung klagt. Es ist der erste Schritt hin zu einer sukzessiven Emanzipation, die darin münden wird, dass der bis dahin noch sexuell völlig unbedarfte Mark O’Brien irgendwann von „Sexualassistenz“ erfährt und sie – ebenfalls unter der Ermutigung des Priesters – selbstbestimmt einfordert. In sechs sinnlichen „Sessions“ wird Cheryl ihn mit Körperbewusstseinsübungen an die Sexualität heranführen. Sitzungen, die in keiner Situation albern wirken und in denen er dank einer souveränen Helen Hunt, Stück für Stück Hemmungen abbaut und seinen eigenen Körper erkundet. Mit 38 öffnet sich für Mark O’Brien damit eine Tür, die er, einmal aufgestoßen und danach nicht mehr schließen kann, wie er selbst sagt. Mit seiner Sexualtherapeutin Cheryl erlebt er, dass er trotz seiner körperlichen Einschränkung Sex haben und diesen genießen kann und er verliebt sich.

Genug Stoff, um eine Schmonzette zu produzieren, die auf die Tränendrüse drückt. Doch genau dies vermeidet Ben Lewin zum Glück. Mit authentischen Darstellern, einem überzeugenden John Hawkes in der Hauptrolle und einem Drehbuch, das Klischees ausspart, anstatt darauf zu setzen, gelingt ihm mit „The Sessions“ ein Film, der in Hollywood fast aufklärend wirkt und trotz zahlreicher Nacktszenen ohne jeden Voyeurismus auskommt. Authentisch und ohne Zynismus vermeidet Lewins Kameraführung konsequent den Mitleidsblick, und stellt statt dessen einen Menschen in den Mittelpunkt, dessen Krankheit man zwar unmittelbar sieht, der jedoch sein Leben nach seiner Façon lebt. Ein großer Teil davon ist Liebe und Sex. Ein Tabubruch in den prüden USA und sicher ein Meilenstein für Hollywood.

Im Utopia.


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