CHINA: Reform und Machterhalt

Wie erwartet, wurde der Führungswechsel in China auf dem Volkskongress erfolgreich vollzogen. Fraglich ist, ob es deswegen zu einem Richtungswechsel kommen wird. Allenfalls zaghaft scheint man sich etwa um Korruption, Ernährungssicherheit und die Zukunft der Geburtenpolitik zu kümmern.

Parlament für 1,34 Milliarden Menschen: Die „Große Halle des Volkes“ am Tian‘anmen-Platz in Peking, wo der Volkskongress Chinas tagt.

Es lief alles wie erwartet: Auf dem 12. Volkskongress Chinas wählten die fast 3.000 Delegierten Xi Jinping zum neuen Staatspräsidenten und Li Keqiang zum Premierminister der Volksrepublik. Xi steht nun Staat, Partei und Armee vor.

Der Volkskongress wird im Ausland oft als „Durchwink“-Parlament bezeichnet. Der chinesischen Verfassung zufolge ist er das höchste Organ des Staats. Seine Abgeordneten beschließen Gesetze, besetzen Ministerien und wählen die Staatsführung, die obersten Richter und Staatsanwälte sowie den ständigen Ausschuss mit 150 Mitgliedern, der sich zwischen den Plenarsitzungen trifft. Von den 2.099 Sitzen sind 888 für die KPCh reserviert, der Rest für Parteien der Volksfront, die sich der Führung der KPCh unterordnen.

Die Delegierten werden alle fünf Jahre in einem mehrstufigen Verfahren von den Volkskongressen auf Ebene der Kreise, Städte und Provinzen gewählt. Zusätzlich dürfen die Einwohner von Hongkong und Taiwan, die Auslandschinesen sowie die Volksbefreiungsarmee Delegierte stellen. Zwar betont die Partei, dass es mehr Kandidaten als Sitze geben soll, aber allein die Abstimmung zur Wahl Xis zeigt, dass Linientreue zählt: Es gab nur eine Gegenstimme.

Noch immer spielen Frauen in der chinesischen Politik eine im internationalen Vergleich geringe Rolle. 23 Prozent der Delegierten sind weiblich und nur zwei der 25 Ministerien werden von Frauen geleitet. Die Financial Times berichtet, dass sich 83 US-Dollar-Milliardäre unter den Delegierten befänden. Einer davon ist Zong Qinghou, der als Gründer der Softdrink-Marke Wahaha über umgerechnet 13 Milliarden US-Dollar verfügen soll. In den USA sollen hingegen weder im Senat noch im Repräsentantenhaus Milliardäre sitzen.

Die „ethnischen Minderheiten“ müssen der chinesischen Verfassung zufolge angemessen vertreten sein. Ihre Delegierten sind leicht an den folkloristischen Trachten zu erkennen, die viele nur an hohen Feiertage tragen. Skurril ist, dass Chang Xiaobing, der Chef des zweitgrößten Internetanbieters „China Unicom“, als Vertreter der tibetischen Delegation teilnimmt: Er ist überhaupt kein Tibeter.

Experten nehmen an, dass nicht für alle wichtigen CEOs in der Delegation Pekings, des Sitzes der meisten wichtigen Firmen, Platz sei und sie deshalb auf andere Delegationen verteilt würden. Die Frage ist, ob die Wahl von Milliardären zu Delegierten des Volkskongress ein Zeichen dafür ist, dass reiche Unternehmer politisch mächtiger werden, oder eher dafür, dass die Parteiführung sie noch fest im Griff hat und am rituellen Unterwerfungsakt teilnehmen lässt.

Grundlegende Reformen des politischen Systems hat der Volkskongress nicht beschlossen, aber die Abschaffung und Zusammenlegung einiger Ministerien wird als Antwort auf soziale Missstände und Korruption gesehen. Das Eisenbahnministerium wird aufgelöst. Die Verwaltung des Schienennetzes wird dem Ministerium für Transport unterstellt und eine kommerzielle Eisenbahngesellschaft darf privates Kapital aufnehmen, um den Wettbewerb zu fördern.

China besitzt mittlerweile das größte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt und hat Milliarden US-Dollar in die Bahn investiert. Das Eisenbahnministerium war in den Verdacht geraten, korrupt zu sein und Sicherheitskontrollen zu vernachlässigen, da es eine Reihe schwerer Bahnunglücke gab. Es scheint außerdem den Streckenausbau auf undurchsichtige Weise finanziert zu haben. Der „South China Morning Post“ zufolge ist das Ministerium mit über 2,7 Billionen Renminbi (335 Milliarden Euro) bei Banken in der Schuld. Es bleibt abzuwarten, ob eine Teilprivatisierung der Bahn mit Schuldenabbau begründet werden wird.

Die staatliche Behörde für Ernährungs- und Medikamentensicherheit wurde durch den Volkskongress zu einem eigenen Ministerium aufgewertet. Das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber einheimischen Nahrungsmitteln ist so groß, dass viele Angehörige der Ober- und Mittelschicht Fleisch nur noch in ausländischen Supermarktketten einkaufen und sich Milchpulver für ihre Babys von Bekannten aus Hongkong oder dem westlichen Ausland mitbringen lassen.

Große Sorge bereitet vielen Menschen zudem, dass kürzlich Tausende tote Schweine im Fluss Huangpu in Shanghai gefunden wurden. Aus diesem Fluss beziehen viele Einwohnerinnen und Einwohner des Großraums ihr Trinkwasser. Es wird spekuliert, dass Bauern die kranken Tiere vor einer angekündigten Kontrolle durch die Behörden loswerden wollten.

Angesichts der Tatsache, dass China von Korruption und Unterschlagung geprägt ist, sind die Maßnahmen der neuen Führung eher symbolischer Natur.

Bisher war die Zuständigkeit für Ernährungssicherheit auf vier Ministerien aufgeteilt. Dabei hatte zum Beispiel das Landwirtschaftsministerium, das für die Agrarproduktion zuständig war, die Höchstwerte für Schadstoffe höher festgelegt als das Gesundheitsministerium. Diese bürokratische Unübersichtlichkeit soll nun durch die Zentralisierung der Zuständigkeit, von der Produktion bis zum Endverbrauch, im neuen Ministerium beendet werden.

Anlass für Spekulationen bietet auch die Zusammenlegung der staatlichen Behörde für Geburtenplanung mit dem Gesundheitsministerium. Dadurch könnte die Macht der Geburtenplanungsbehörde, auf deren Gehaltsliste über 500.000 Menschen stehen sollen, beschnitten werden. In China fordern immer mehr Menschen ein Ende der strengen Ein-Kind-Politik, da China in naher Zukunft eine Überalterung drohe. Bisher hält die Parteiführung aber daran fest. Am 15. März veröffentlichte das Gesundheitsministerium eine Statistik, der zufolge 330 Millionen Abtreibungen und 196 Millionen Sterilisationen seit 1971 vorgenommen worden seien. Ohne diese Maßnahmen wäre Chinas Bevölkerung heute vermutlich um 30 Prozent größer.

Xi betont in seinen Reden immer wieder den Kampf gegen die Korruption in Staat und Partei. Er appellierte vor allem an die Moral und die Verpflichtung der Politiker, dem Volk zu dienen. Der Volkskongress hat allerdings kein Gesetz beschlossen, um Funktionäre zur Offenlegung ihrer Nebeneinkünfte zu zwingen, wie es einige Abgeordnete am Rande der Versammlung forderten. Nur die Ausgaben für extravagante Empfänge, Dienstwagen und Urlaube sollen reduziert werden und Auslandsreisen von Funktionären sollen nur bewilligt werden, wenn sie tatsächlich diplomatischen Zwecken dienen.

Korruption beginnt in China in der Regel schon bei den Erzieherinnen und Erziehern im Kindergarten, die Geldgeschenke von den Eltern annehmen. Das setzt sich dann bis in Universitäten, Krankenhäuser und staatliche Behörden fort. Da nicht mitzumachen, ist nicht einfach. Wie soll zum Beispiel der Erzieher aus dem Kindergarten den Lehrer seiner Tochter in der Schule bestechen, wenn er selbst keine „roten Umschläge“ annimmt? Auf den höheren Ebenen geht es bei der Unterschlagung um Millionenbeträge.

Durch das Internet ist die neue Wortschöpfung vom luoguan („nackten Beamten“) populär geworden. Dieser Beamte hat sein Vermögen und seine Familienmitglieder schon ins Ausland gebracht, letztere haben ausländische Staatsbürgerschaften angenommen; er behält seinen Posten in China nur noch, um abzukassieren. Angesichts der Tatsache, dass die chinesische Gesellschaft durchweg von Korruption und Unterschlagung geprägt ist, sind die Maßnahmen der neuen Führung eher symbolischer Natur.

Obwohl der Führungswechsel erfolgreich vollzogen wurde, Chinas Wirtschaft weiter boomt und die globale Krise relativ gut übergestanden hat, sind die gesellschaftlichen Probleme und das Entsetzen über den eigenen moralischen Verfall im Lande groß. Zwar scheint die „linkspopulistische“ Fraktion innerhalb der Partei besiegt zu sein, gegen den ehemaligen Parteisekretär von Chongqing, Bo Xilai, wurde aber auch ein Jahr nach seiner Absetzung noch immer keine Anklage erhoben.

Bo galt als Hoffnungsträger der „Linken“. Ihm wird Korruption sowie die Verwicklung in einen Mordfall vorgeworfen. Im Internet kursieren Gerüchte, dass er sich in Untersuchungshaft im Hungerstreik befinde und nicht zur Kooperation mit den Behörden bereit sei. Die Parteiführung hat den Prozess augenscheinlich auf die Zeit nach dem Volkskongress verschoben. Falls Bo bei dem Prozess kein Geständnis ablegt, könnte die Regierung einen Imageschaden erleiden.

Wie seine Vorgänger beschwor Xi auf dem Volkskongress das alte Mantra der Stabilität; Li bezeichnete „nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ als oberste Priorität der Regierung. Die Stabilität könnte jedoch von außen bedroht werden. Um für die Auseinandersetzung mit Japan um die Diaoyu-Inseln besser gerüstet zu sein, beschloss der Volkskongress die Zusammenlegung diverser ministerieller Zuständigkeiten zu einer neuen Superbehörde der nationalen Seeverwaltung.

Die Regierung ist auch besorgt wegen der aggressiven Provokationen Nordkoreas gegenüber Südkorea. In beiden Konflikten könnten militärische Auseinandersetzungen ein Eingreifen der US-amerikanischen Armee nach sich ziehen. Falls es zu einem Krieg in Ostasien kommen sollte, könnte sowohl die außenpolitische Sicherheit als auch die innere Stabilität Chinas gefährdet sein. Die neue Führung steht jedenfalls vor großen Herausforderungen, will sie die Herrschaft der KPCh erhalten.

Felix Wemheuer ist Sinologe und arbeitet an der Universität Wien.


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