LAGE DER NATION: Ohnmachtsgefühle

Die diesjährige Debatte zur Lage der Nation wird, mehr noch als früher, durch Faktoren bestimmt, die außerhalb des Einflusses des kleinen Luxemburg liegen.

Wenn der Blick in die Zukunft getrübt ist, greifen Politiker gerne in die Kiste der historischen Vergleiche. Jean-Claude Juncker glaubte vor kurzem, Merkmale des Jahres 1913 wiederzuerkennen, und der liberale Europaabgeordnete Charles Goerens verglich diese Woche die aktuelle Stimmung in Europa mit jener der 1930er Jahre. Beide Vergleichsmomente sind nicht geeignet, Optimismus zu inspirieren, folgten auf sie doch unmittelbar zwei zerstörerische Weltkriege.

Wenn zwei überzeugte Europäer fast schon so etwas wie Defätismus betreiben, dann muss die Lage tatsächlich ernst sein. Die Vorgespräche zur Erklärung zur Lage der Nation, die der Premier derzeit mit den Sozialpartnern führt, lassen erkennen: Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Das von der Regierung selbstgesetzte Ziel eines ausgeglichenen Haushalts wird in den nächsten Jahren nicht zu erreichen sein. 2014, wo eigentlich schon eine schwarze Null geschrieben werden sollte, wird das Defizit voraussichtlich nochmal höher ausfallen als 2013. Daran wird auch der Verzicht der christsozialen Partei- und Fraktionschefs auf ihr 13. Monatsgehalt nichts ändern.

Doch ist es weniger die Krise als der europaweite Umgang mit ihr, der für Beunruhigung sorgt. Charles Goerens wendet sich in einem offenen Brief an den mit bürgerlicher (also auch liberaler) Mehrheit bestätigten Kommissions-Präsidenten José Manuel Barroso mit der Mahnung, seiner Aufgabe als oberster Wächter der EU-Abkommen gerecht zu werden. Die Töne, die insbesondere aus Berlin herüberschallen, und das Hinterfragen der „Geschäftsmodelle“ der „kleinen EU-Staaten“ seien eine Verletzung des Gleichheits-Prinzips, nach dem alle EU-Mitgliedsstaaten, ungeachtet ihrer Größe oder Bevölkerungszahl, gleichberechtigt an der Gestaltung Europas beteiligt sind.

Tatsächlich verfolgt die EU (und mit ihr die Kommission und ihr Präsident) in großen Zügen eine Politik der strukturellen Anpassung, die einzelne Mitgliedsstaaten an den Rand des Wirtschaftskollaps und sogar über diesen hinweg geführt hat. Im Gegensatz zu seinen liberalen Kollegen in der britischen und der deutschen Regierung, die genau diesen Kurs für sich und die anderen beschwören, warnt Goerens vor den politischen Gefahren, die sich aus ihm ergeben: Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg sei die anti-europäische Stimmung so stark gewesen wie gegenwärtig. Und auf die abschätzige Sprechweise, die derzeit vorherrsche, gründet er seinen Vergleich mit den 1930er Jahren.

„Die EU scheint eine Ehe nur für die guten Zeiten zu sein.“

Doch reicht es, die Rolle des kleinen, unterdrückten und missachteten Partners zu spielen? Wenn jetzt zu Recht ein Mangel an Solidarität eingeklagt werden muss, so deutet das auch auf Konstruktionsfehler der Gemeinschaft hin, die alle „gleichberechtigten“ Partner zusammen jeweils einstimmig beschlossen hatten. Jetzt rächt sich, dass jeder für sich auf die Wachstumspotentiale und die sich aus ihnen ergebenden kurzfristigen Vorteile setzte und der Aufbau der sozialen Union immer wieder zurückgestellt wurde.

Die EU scheint eine Ehe nur für die guten Zeiten zu sein. Wer in Not gerät, wie Zypern, Griechenland usw., hat sich das selber zuzuschreiben und erfährt die wenige Unterstützung – wenn überhaupt – nur, wenn er das Diktat aus Berlin annimmt.

Dass einige Geschäftsmodelle in der Euphorie des gemeinsamen Marktes (und der sich in ihm auftuenden Schlupflöcher) tatsächlich auf tönernen Füssen errichtet wurden, wird allerdings kaum thematisiert. Auch Luxemburg merkt jetzt, dass es vom Wohlwollen der größeren und großen EU-Mitglieder abhängig ist. Der Finanzminister tritt die Flucht nach vorne an und sucht neue Partner im Mittleren und Fernen Osten. Das Geschäftsmodell bleibt gleich, nur die Kundschaft soll ausgetauscht werden. Bis zur nächsten strukturellen Krise?


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